Würde des Kompromisses

Maria Katharina Moser über eine „selbstverständliche Lebenstechnik“
„Ich weiß einen Kompomiss!“, sagt der 4-jährige Manuel zu seiner 7-jährigen Schwester Anna. Manuel kann das Wort Kompromiss noch nicht so gut aussprechen. Aber was ein Kompromiss ist, weiß er genau: Er will was, Anna will was anderes. Jetzt ist die Frage: Geht es darum, wer seinen Willen durchsetzt? Oder geht es darum, sich auf etwas zu einigen, das für beide passt. Eine Lösung zu finden, mit der beide zwar nicht hundertprozentig, aber zumindest ein bisschen zufrieden sind. Jedenfalls soll weder Manuel noch Anna ganz dagegen sein.
Der große Soziologe Georg Simmel, der von 1858-1918 gelebt hat, hätte seine Freude gehabt mit Manuel und Anna. Für Simmel ist der Kompromiss „eine der größten Erfindungen der Menschheit“, eine alltägliche und selbstverständliche Lebenstechnik.
Davon weiß schon die Bibel zu berichten. In der Apostelgeschichte wird von einem Konflikt erzählt, der sich um die Frage dreht, ob sich Nicht-Juden beschneiden lassen und an das gesamte mosaische Gesetz halten müssen, um zur Gemeinde derer, die sich zu Jesus bekennen, gehören zu können. Am Schluss steht ein Kompromiss: keine Beschneidung, keine Einhaltung aller Regelungen – aber die Einhaltung bestimmter Gebote wie etwa Enthaltung von Götzenopferfleisch und gewisser Speisevorschriften.
Zum Kompromiss gehört, Abstriche zu machen und Teile von ursprünglichen Forderungen aufzugeben. Das hat der Kompromissbereitschaft einen schlechten Ruf eingebracht: zu nachgiebig, entscheidungsschwach, gefügig, kompromisslerisch eben.
Doch ohne Kompromisse funktioniert das Zusammenleben schlicht und ergreifend nicht. Kompromissfähigkeit heißt, mit unterschiedlichen, ja widerstreitenden Interessen produktiv umzugehen. Dass das auch für die Politik gilt, daran hat Bundespräsident Alexander Van der Bellen in den letzten Wochen wiederholt erinnert. Er hat die politischen Parteien aufgefordert, „mit dem Blick auf das Staatsganze dem Weg des guten Kompromisses, der unser Land groß gemacht hat“ zu folgen. Wenn der Bundespräsident vom Kompromiss spricht, spricht er gleichzeitig von der Demokratie. Denn Kompromisse, um die im Gespräch gerungen wird, sind das Fundament unserer Demokratie. Kompromisse zu schließen bedeutet, auf gewaltsames Durchsetzen von Interessen zu verzichten. Und Kompromisse sind ein Ausdruck der Achtung des anderen – auch wenn er oder sie anderer Meinung ist als ich.
Im Idealfall werden auf dem Weg des Kompromisses neue Lösungen gefunden. Ein Kompromiss kann schöpferische Kraft entwickeln. Kompromisse zielen jedenfalls darauf, in Konfliktsituationen die Würde des anderen zu wahren. Darin liegt die Würde des Kompromisses.