Körtner: Covid-19-Virus ist gekommen, um zu bleiben

Wiener Theologe im Ethik-Online-Seminar des Kaiserswerther Verbandes

 
von Evangelischer Pressedienst
In der zweiten Phase der Pandemie müssten Freiheit und Verantwortung in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden, sagt Körtner. Foto: pixabay
In der zweiten Phase der Pandemie müssten Freiheit und Verantwortung in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden, sagt Körtner. Foto: pixabay

Wiener Theologe im Ethik-Online-Seminar des Kaiserswerther Verbandes

Wien/Berlin (epdÖ) Die Corona-Pandemie führt den Menschen ihre Endlichkeit und die Verletzlichkeit einer hochkomplexen Gesellschaft und ihrer sozialen Systeme vor Augen, betont der Wiener Theologe und Medizinethiker, Ulrich Körtner. Unter dem Titel „Ethik in Zeiten von Corona“ sprach Körtner in einem Online-Seminar, zu dem der Kaiserswerther Verband am Mittwoch, 20. Mai, eingeladen hatte. „Die Krise infolge der Corona-Pandemie ist eine medizinische, politische, gesellschaftliche und ökonomische, aber auch eine ethische Herausforderung und Bewährungsprobe“, so der an der Wiener Evangelisch-theologischen Fakultät lehrende Ethiker weiter.

In der Krise träten Stärken und Schwächen gesellschaftlicher Teilsysteme wie dem Gesundheits- und Pflegewesen hervor. Zugleich sei das Risiko, an Covid-19 zu erkranken, auch innerhalb Europas ungleich verteilt. Es sei abhängig von Faktoren wie dem Einkommen, der beruflichen Stellung oder Wohnverhältnissen. Auch fiele der Genderaspekt ins Gewicht, betont Körtner. Soziologen hätten eine Retraditionalisierung geschlechtsbezogener Rollenbilder in der Krise festgestellt. Die Corona-Krise werfe viele Gerechtigkeitsfragen auf und verschärfe die Lagen besonders verletzlicher und marginalisierter Bevölkerungsgruppen.

„Religion ist in der säkularen Gesellschaft nicht systemrelevant“, kommentierte Körtner die Tatsache, dass Gotteshäuser geschlossen wurden, während Baumärkte und Gartencenter teils geöffnet blieben. Trotzdem warnte der Ordinarius für Systematische Theologie vor der theologischen Überhöhung der Krise. Auch schaffe der Verlust von Systemrelevanz für Theologie und Kirche neue Freiräume und sei nicht bloß zu beklagen. Kirche und Diakonie hätten die Aufgabe, Gottes bedingungslose Hinwendung zu den Menschen und seiner Schöpfung zu bezeugen.

In der zweiten Phase der Pandemie müssten Freiheit und Verantwortung in ein ausgewogenes Verhältnis gebracht werden, so Körtner. Freiheit schließe auch die Freiheit zum Sterben und zu selbstverantwortlich eingegangenen gesundheitlichen Risiken ein. Der lobenswerte Grundsatz des Schutzes gefährdeter Menschen dürfe zudem nicht zur Bevormundung von Patienten und Bewohnern führen.

In der aktuellen Phase der Forderungen nach massiven Lockerungen entstehe ein Konflikt zwischen Eigeninteresse und Gemeinwohl, prognostizierte Körtner. Dabei sei es in wohlverstandenem Eigeninteresse, sich auch solidarisch zu zeigen. Die Grenzen der eigenen Freiheit seien dort erreicht, wo andere Menschen in Gefahr gebracht würden. Um ein funktionierendes Gesundheitssystem aufrecht zu erhalten, seien Einschränkungen der individuellen Freiheit ethisch zulässig. Deren Verhältnismäßigkeit müsse aber überprüft werden. „Das Covid-19-Virus ist gekommen, um zu bleiben“, ist Körtner überzeugt. So lange es keine wirksamen Medikamente und keinen Impfstoff gebe, dauere der Stresstest an. Die Pandemie führe den Menschen ihre Verletzlichkeit und Endlichkeit und die Verletzlichkeit einer hochkomplexen Gesellschaft und ihrer sozialen Systeme vor Augen.

Dies bedeute auch, im Zweifelsfall und bei Ressourcengrenzen medizinethisch entscheiden zu müssen. Dabei dürfe es keine Altersdiskriminierung geben, so Körtner: „Die mutmaßliche Lebenserwartung nach der Gesundung ist für die Aufnahme auf eine Intensivstation unerheblich.“ Das bedeute aber, dass im Katastrophenfall auch nicht an Covid-19 erkrankte Patienten von der Triage betroffen sein könnten. Ein besonderes Augenmerk sei dabei auf die Entwicklung in stationären Pflegeeinrichtungen zu richten.

Es müssten immer wieder schwere Entscheidungen getroffen werden, auch auf die Gefahr hin, das Falsche zu tun, so Körtner, der sich in kirchlich-diakonischen Einrichtungen eine ethische Kultur wünsche, „die vom Geist der Kraft, Liebe und Besonnenheit geprägt ist“. Dies sollte sich in einer ethischen Beratungskultur niederschlagen. Die Krankenhausseelsorge könne hier einen wichtigen Beitrag leisten. Ärzte und Pflegepersonen bräuchten nicht nur Ethikberatung, sondern auch Trost und Beistand.

Besonders krass seien in der Phase des Lockdowns die Eigentümlichkeiten und Mängel heutiger Sterbekultur zutage getreten, betonte Körtner: „Dominiert der epidemiologische Blick das Handeln in der Corona-Krise, nimmt die Einsamkeit der Sterbenden auf Intensivstationen und in Pflegeeinrichtungen zu.“ Werde unsere Sterblichkeit verdrängt, müsse jeder Tote als Versagen empfunden werden. Dies führe zu moralischem Stress beim klinischen Personal.

Wie gut die Aufrechterhaltung des Gesundheitssystems funktioniere, werde in den kommenden wirtschaftlich harten Zeiten zu einer sehr großen Herausforderung. Es sei zu hoffen, dass der Diskurs über Weichenstellungen öffentlich und transparent geführt werde.

Der Kaiserswerther Verband (KWV) bildet seit über 100 Jahren ein Netzwerk diakonischer Einrichtungen in der Tradition der Mutterhausdiakonie Kaiserswerther Prägung. Mit Sitz in Berlin gehören ihm heute 65 Diakonieunternehmen und Diakonische Gemeinschaften an. Geschäftsführerin des Verbandes und Generalsekretärin der Kaiserswerther Generalkonferenz ist die aus Österreich stammende Pfarrerin Christa Schrauf, frühere Rektorin des Diakoniewerkes Gallneukirchen.

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