Kirchen warnen vor zunehmendem Antisemitismus
Gedenkgottesdienst in Wiener Ruprechtskirche – Superintendent Dantine: „Antisemitismus ist in Europa leider noch lange nicht Geschichte“
Gedenkgottesdienst in Wiener Ruprechtskirche – Superintendent Dantine: „Antisemitismus ist in Europa leider noch lange nicht Geschichte“
Wien (epdÖ) „Antisemitismus ist in Europa noch lange nicht Geschichte.“ Diese Warnung hat der evangelische Superintendent der Diözese Salzburg und Tirol, Oliver Dantine, ausgesprochen. In seiner Predigt am Mittwochabend, 9. November, beim Gedenkgottesdienst für die jüdischen Opfer der Novemberpogrome 1938 wies Dantine in der Wiener Ruprechtskirche darauf hin, dass es immer wieder zu antisemitischen Übergriffen in vielen Ländern Europas komme, auch in Österreich. Er sprach von neuen Angriffen auf Gedenkorte an die Shoah, von verbalen und tätlichen Angriffen auf Jüdinnen und Juden, von hetzerischen Kommentare in sozialen Medien, „die den Hass auf Flüchtlinge mit Vorschlägen verbindet, die den schlimmsten Verbrechen in der Shoah entsprechen“.
Juden würden ihm erzählen, dass nicht wenige von ihnen in Europa sprichwörtlich auf gepackten Koffern sitzen, warnte Dantine: „Dass jüdisches Leben in Europa wieder in Frage gestellt wird, muss uns Christinnen und Christen aufrütteln“. Den Kirchen dürfe es nicht gleichgültig sein, wenn Jüdinnen und Juden sich wieder in Europa unsicher fühlen. Der Superintendent wies auf die historische Verantwortung der Christen für die Entstehung und Tradierung von Judenfeindschaft und Antisemitismus hin. Zugleich hob er aber auch hervor, dass inzwischen sehr vielen Christinnen und Christen wie überhaupt den Kirchen der Dialog mit dem Judentum wichtig geworden sei, „denn immerhin verbindet dieser Dialog uns mit unserer religiösen Wurzel“. Dantine: „Ist jüdisches Leben in Europa in Frage gestellt, dann auch dieser Dialog, diese Beziehung zu unseren Wurzeln. Was für ein Verlust für kirchliches Leben, für die Theologie, für den christlichen Glauben wäre das für uns hier in Europa!“
Christ-Sein bedeute neben dem Eintreten für Recht und Gerechtigkeit und für die Menschenwürde aller Menschen auch und wesentlich, gegen Antisemitismus Stellung zu beziehen. Das beinhaltet, dass sich Kirchen mit den eigenen judenfeindlichen und antisemitischen Traditionen auseinandersetzen. Es bedeute auch, „gegen das Vergessen zu wirken, für das Gedenken der Opfer der Shoah, und sich für das Sichtbarmachen von Gedenkorten einzusetzen. Auch hier ist an vielen Orten noch viel zu tun.“ „Wer nur Gottesdienst feiert ohne sich für die Schwachen, Armen und Unterdrückten einzusetzen, wird dem Willen Gottes nicht gerecht“, erklärte Dantine mit Verweis auf die Lesung aus dem Buch des Propheten Amos. „Dies gilt heute genauso wie damals“, so der Superintendent.
Schönborn und Bünker betonen Einsatz gegen Antisemitismus
Kardinal Christoph Schönborn und Bischof Michael Bünker haben am selben Tag die gemeinsame Verantwortung der Kirchen und die schuldbehaftete Geschichte gegenüber dem Judentum unterstrichen. Im Interview mit „Kathpress“ und dem „Evangelischen Pressedienst“ betonten sie unisono die gemeinsame Verpflichtung, jeder Form von Antisemitismus deutlich entgegenzutreten.
Kardinal Schönborn sprach weiters auch von den jüdischen Wurzeln der Kirche, auf die sich katholische und evangelische Kirche in den vergangenen Jahrzehnten wieder gemeinsam besonnen hätten. Das Wiederendecken der gemeinsamen jüdischen Wurzeln habe die ökumenische Annäherung erleichtert. Bischof Bünker hob die Verpflichtung der Kirchen hervor, gegen alle Tendenzen aufzutreten, „die die Gesellschaft spalten oder Minderheiten marginalisieren“.
Der Gedenkgottesdienst in der Wiener Ruprechtskirche fand im Rahmen der alljährlich stattfindenden Bedenkwoche „Mechaye Hametim – Der die Toten auferweckt“ statt. Unter den Teilnehmern waren u.a. der Vorsitzende des Ökumenischen Rates der Kirchen in Österreich (ÖRKÖ), Pastor Lothar Pöll, der Wiener evangelische Superintendent Hansjörg Lein und der Präsident des Koordinierungsausschusses für christlich-jüdische Zusammenarbeit, Prof. Martin Jäggle. Im Anschluss an den Gottesdienst gingen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in einem Schweigemarsch von der Ruprechtskirche zum Judenplatz. Vor dem Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Schoah entzündeten sie Kerzen.
In der Nacht vom 9. auf 10. November 1938, die noch immer unter dem euphemistischen Nazi-Ausdruck „Reichskristallnacht“ bekannt ist, wurden im gesamten deutschen Machtbereich Synagogen in Brand gesteckt, jüdische Geschäfte sowie Wohnungen zerstört und verwüstet. Zahlreiche Juden wurden bei den Pogromen getötet oder verletzt. Allein in Wien wurden im Zuge der Pogrome insgesamt 42 Synagogen und Bethäuser zerstört. 6.547 Wiener Juden kamen in Haft, knapp 4.000 davon wurden in das Konzentrationslager Dachau verschleppt.