Zum 300. Geburtstag von Immanuel Kant

 
von Evangelischer Pressedienst

Die „SAAT“ beleuchtet Leben und Wirken des großen Philosophen

Wien (epdÖ) – Dem bedeutenden Philosophen Immanuel Kant widmet sich in einem großen Artikel die aktuelle Ausgabe der evangelischen Zeitung für Österreich „SAAT“. Vor 300 Jahren, am 22. April 1724, wurde er in Königsberg, dem heutigen Kaliningrad, geboren. Michael Bünker, Bischof i.R. der Evangelischen Kirche A.B., hat sich für die SAAT näher mit dem Leben und Wirken Kants befasst.

„Es ist gut.“

Immanuel Kant ist zum bedeutendsten Philosophen der Aufklärung, ja der Neuzeit insgesamt geworden. War ihm das in die Wiege gelegt, als er vor 300 Jahren, am 22. April 1724, in Königsberg (Preußen) in eine Handwerkerfamilie geboren wurde? Früh musste er sich nach dem Tod der Eltern um seine Geschwister kümmern. Von der Mutter erhielt er die pietistische Frömmigkeit und das Streben nach Bildung. Darauf konnte Kant noch 1793 in seiner Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ zurückgreifen. Schon Jahre davor hatte er ausgeführt, dass es keine Beweise für die Existenz Gottes geben könne. Dennoch gibt es mit dem Gebot der Sittlichkeit etwas, das unbedingt gilt. So formulierte Kant den berühmten Kategorischen Imperativ: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“.

Damit diesem Imperativ absolute Verbindlichkeit zukommen kann, ist es sinnvoll, ihn als Gebot Gottes aufzufassen. Der Glaube an Gott hilft auch, die eigene moralische Besserung als dauernde Aufgabe wahrzunehmen. So wird Gott zu einem Postulat, zu einer Voraussetzung der praktischen Vernunft. Kant entwirft also eine Vernunftreligion, der – wenig überraschend – der Protestantismus am nächsten kommt. Kant war kein Atheist und schätzte die Kirche als jene Gemeinschaft, in der man sich gegenseitig hilft, die moralischen Ziele zu erreichen. Aber selbst ist er jahrzehntelang nie in die Kirche zum Gottesdienst gegangen.

Sein ganzes langes Leben lang kam er nie aus Königsberg und dessen näherer Umgebung heraus. Trotzdem hat er fast 40 Jahre lang sehr gut besuchte Vorlesungen über Geographie gehalten und darin die ganze Welt thematisiert. Als Grundlage dienten ihm Reiseberichte und so manche mündliche Erzählung, die ihm in der Hafenstadt zu Ohren kam. Vieles davon ist schlicht überholt, wie etwa seine Einteilung der Menschheit in vier Rassen. Von einigem wird man sich heute distanzieren, wie etwa seiner Frauenfeindlichkeit und dem anfangs völlig unkritisch hingenommenen Kolonialismus. Manches wird aber bleiben, etwa seine Überlegungen zu einem Weltbürgerrecht, das eine globale Zusammengehörigkeit aller Menschen begründet, letztlich auch der indigenen Bewohner:innen anderer Kontinente, die damals noch als „Eingeborene“ und „Wilde“ bezeichnet wurden.

1795, im hohen Alter von 71 Jahren, veröffentlichte Kant seine berühmte Schrift „Zum ewigen Frieden“. Friede – sogar „ewiger“ Friede – ist für Kant nicht weltfremde Träumerei, sondern realistische Politik. Warum wird es dazu kommen? Kant plädiert für den Frieden nicht wegen der abschreckenden Gräuel oder aus moralischen Gründen, sondern ganz nüchtern aus rein rechtlichen Überlegungen. Die Rechte der Menschen können im Krieg auf keiner Seite gesichert werden, daher ist Krieg schlicht und einfach Unrecht und muss überwunden werden. Damit ist er seiner Zeit weit voraus. Kant machte sich keine Illusionen. Vor allem seien die Menschen selbst aus „krummem Holze“ gemacht und hätten einen „Hang zum Bösen“, ja zum radikal Bösen, was trotz der vorhandenen „Anlage zum Guten“, die die Menschen ebenfalls hätten, an ihrer Friedfertigkeit zweifeln lässt. Aber trotzdem: Dauerhafter Friede und globale Demokratisierung sind denkbar und politisch möglich, auch wenn es heute gar nicht danach aussieht.

Seit 1945 heißt Königsberg Kaliningrad und ist heute eine russische Exklave zwischen den NATO-Staaten Polen und Litauen. Schon 2021 hat der russische Präsident Putin angeordnet, dass der 300. Geburtstag des Philosophen angemessen gefeiert werden solle. Das wird angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine wohl spannend werden. Hat doch Kant geschrieben: „Kein Staat soll sich in die Verfassung und Regierung eines andern Staates gewalttätig einmischen“. Friede bleibt daher das höchste politische Gut, weil ohne Frieden kein menschenwürdiges Leben möglich ist.

Aufklärung: Revolution des Denkens

Mit „Aufklärung“ wird eine historische Epoche bezeichnet, die mit dem Ende der Religionskriege 1589 (1648) beginnt und mit der Französischen Revolution 1789 endet. Aus den Religionskriegen entstand der religiös und weltanschaulich neutrale Verfassungsstaat, unsere heutige Form der Demokratie. In religiöser Hinsicht setzte sich der Gedanke der Toleranz durch. Klassisch wurde die Formulierung von König Friedrich II. aus dem Jahr 1740, wonach in religiösen Fragen „ein jeder nach seiner Fasson Selich werden“ müsse. In der Sache hat die Aufklärung wohl schon viel früher begonnen. Mit der Entdeckung des heliozentrischen Weltbildes durch Nikolaus Kopernikus 1543 und der Entdeckung Amerikas durch Christoph Kolumbus 1492 änderte sich alles. Auf beide Entdeckungen gaben die bis dahin unstrittigen Autoritäten keine Antwort, auch die Bibel nicht. Das Wissen musste auf völlig neue Grundlagen gestellt werden. So setzte die Revolution des Denkens und der Wissenschaft ein. René Descartes, Isaac Newton, Voltaire und Lessing sind die herausragenden Vertreter der Aufklärung.

Aber Aufklärung ist nicht nur eine Bezeichnung für eine Epoche in der Geschichte Europas. Aufklärungen gab es schon viel früher auch in anderen Weltgegenden und grundsätzlich in allen Religionen. Eine aktuelle Form der Aufklärung wäre auch heute angesichts von Verschwörungsmythen und Fake-News notwendig. 1783 veröffentlichte Immanuel Kant seine klassisch gewordene Antwort auf die Frage „Was ist Aufklärung?“ in drei Sätzen: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen.“

Als das geschrieben wurde, war Kant schon 13 Jahre lang Professor für Logik und Metaphysik an der Universität in Königsberg. Um diese Stelle zu erlangen, hatte er bis hinauf zum König intrigiert, eine von mehreren Schattenseiten seiner Persönlichkeit. Bis dahin war er Unterbibliothekar mit geringem regelmäßigen Einkommen und lebte hauptsächlich von Hörergeldern. Seine Vorlesungen hielt er, wie damals üblich, zu Hause. Auf diesen Karrieresprung 1770 folgten aber erst einmal zehn lange Jahre des Schweigens, in denen er so gut wie nichts veröffentlichte. Erst 1781 erschien die bahnbrechende „Kritik der reinen Vernunft“, mit der er seine „Revolution der Denkart“ veröffentlichte. Der Vernunftgebrauch, der die Moderne begründete, zeigt sich uns Heutigen aber ambivalent. Die Philosophen Theodor Adorno und Max Horkheimer haben in ihrem amerikanischen Exil von der „Dialektik der Aufklärung“ gesprochen. Die Rationalität, mit der die Nationalsozialisten die Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden geplant und durchgeführt haben, steht ebenso dafür wie der 16. Juli 1945, an dem um 5.30 Uhr die erste Atombombe gezündet wurde. Seitdem kann der Mensch nicht nur der Geschichte eine neue Richtung geben, sondern sie auch beenden.

Es liegt auf der Hand, dass die Aufklärung auch die Religion erfasste. Vor allem die Bibel wurde nun nach vernünftigen Kriterien ausgelegt. Es entstand als Reaktion die historisch-kritische Bibelwissenschaft. Die Kirchen sahen sich heftiger Kritik ausgesetzt. Das betraf vor allem die katholische Kirche in Frankreich, wo während der Revolution die Vernunft auf dem Altar von Notre Dame verehrt wurde. Es bildeten sich theologische Richtungen, die die Anliegen der Aufklärung aufnahmen, und solche – wie der Pietismus – die sich deutlich dagegenstellten. So oder so war die Aufklärung eine Zeitenwende, hinter die es kein Zurück mehr gibt. Im Blick auf die evangelische Tradition hat man zur Verdeutlichung von einem Altprotestantismus gesprochen, der weiterhin voraufgeklärt blieb, dem ein Neuprotestantismus gegenübersteht, der sich der Moderne öffnete. Konflikte waren vorprogrammiert, als nach dem Toleranzpatent 1781 im heutigen Österreich lauter aufgeklärte Theologen als „neuprotestantische“ Pfarrer in die ländlichen, durch und durch „altprotestantischen“ Gemeinden kamen. Bis heute beschäftigt Kant die Theologie, auch die evangelische in Österreich, wie viele Publikationen von Ulrich Körtner und Christian Danz zeigen.

Kant bezog als Professor ein festes Einkommen und war damit in der Lage, ein eigenes Haus zu erwerben. Dort lebte er bis zu seinem Tod, die längste Zeit mit seiner Köchin Louise Nietsche und dem Diener Martin Lampe. Trotz aller Betonung der Vernunft und trotz seiner Freundschaft mit zahlreichen Juden wie zum Beispiel dem Philosophen Moses Mendelssohn finden sich bei Kant massive antisemitische Vorurteile.

Mit zunehmendem Alter wurde Kant etwas eigenwillig. Legendär war sein fester Tagesablauf. Es heißt, die Menschen hätten nach dem Spaziergang des Professor Kant ihre Uhren stellen können. Das war täglich pünktlich um 19 Uhr. Danach gab es noch ein wenig Zeit fürs Studieren, aber um 22 Uhr lag Kant im Bett, denn der Tag begann immer zeitig um 4.45 Uhr. Von 7 bis 9 Uhr hielt er Vorlesungen, danach arbeitete er an Veröffentlichungen. Ab 12.45 Uhr wartete er schon auf die Gäste seiner Mittagsgesellschaft, immer eine reine Männerrunde. Aufgetischt wurde ein dreigängiges Essen. Kant liebte Kabeljau oder Teltower Rübchen. Die Unterhaltung zog sich nicht selten bis in den späten Nachmittag hinein. Kant liebte die Geselligkeit und war für seinen ausgesprochen trockenen Humor bekannt. Noch in seinen letzten Lebensjahren begann eine Verehrung, die manchmal an den Starkult von heute erinnert: Seine Ziegenlederschuhe (Größe 39) wanderten 1803 in eine private Sammlung nach Dresden.

Als es mit ihm zu Ende ging, verlangte er noch zu trinken. Dann sagte er nur: „Es ist gut“. Das waren seine letzten Worte. Am 12. Februar 1804 ist Immanuel Kant gestorben.

Quelle: SAAT – Evangelische Zeitung für Österreich, Ausgabe 4/2024

Kant: Werke

Immanuel Kants Werk „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) untersucht die Grenzen unseres Erkennens. Das Werk ist ein Wendepunkt in der Philosophiegeschichte und der Beginn der modernen Philosophie. In seiner „Kritik der praktischen Vernunft“ (1788) entwickelt er den „Kategorischen Imperativ“: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ In diesem Werk geht es auch um die drei klassischen Themen der aufgeklärten Vernunftreligion: Freiheit, Unsterblichkeit der Seele und Gott. Daran knüpft Kant später in seinem Werk „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft“ (1793) an. In seinem dritten Hauptwerk „Die Kritik der Urteilskraft“ (1790) versucht Kant, zwischen Natur (dem Gegenstand der theoretischen Vernunft) und Freiheit (dem Gegenstand der praktischen Vernunft) zu vermitteln.

Den Artikel können Sie auch in der aktuellen April-SAAT lesen. Die evangelische Zeitung für Österreich erscheint monatlich und ist für 36 Euro im Jahresabo hier erhältlich.

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