Wahlverwandtschaften
Julia Schnizlein über wahre Freunde
Kurz vor dem jüngsten Lockdown ist es mir aufgefallen. Ich wollte noch einmal all die Menschen durchtelefonieren, die in meinem Leben wichtig sind, ihnen versichern, dass wir unsere Verabredungen nachholen und uns bestimmt bald wiedersehen – aber da waren nicht mehr so viele.
Mehr als 600 Kontakte sind in meinem Handy gespeichert, aber nur wenige davon habe ich im vergangenen Jahr angerufen. Ein Jahr Pandemie hat Freunde gekostet! Menschen, die ich früher regelmäßig getroffen habe, sei es geplant oder beiläufig, am Spielplatz oder in der Arbeit – habe ich seit Monaten nicht mehr gesehen.
Tatsächlich ist mein Freundeskreis schon seit Jahren geschrumpft. Angefangen hat es nach der Schulzeit mit dem Wegzug aus meiner Heimatstadt. Viele, die ich vorher täglich gesehen habe, mit denen ich blutige Knie, Familienkrach und Schulstress geteilt habe, verlor ich aus den Augen. Nur wenige blieben. Mit jeder Lebensphase, jedem Umzug und jeder beruflichen Station kamen neue Menschen in mein Leben und andere gingen.
Jede zweite Freundschaft endet innerhalb von sieben Jahren, sagt die Statistik. Es ist also normal, wenn Menschen, die einmal Wohnung, Bibliothek, Bier oder Yogamatte geteilt haben, irgendwann getrennte Wege gehen. Weniger schmerzhaft ist es deshalb meist trotzdem nicht. Ich selbst denke noch oft an alte Freunde, frage mich, was wohl aus ihnen geworden ist und bringe dann doch nicht die Kraft auf, sie zu kontaktieren.
Vermutlich ist auch das „normal“. Die meisten Menschen haben ein bis zwei beste Freunde und höchstens fünf wirklich enge Freunde, sagt die Statistik. Weil es aufwendig ist, Freundschaften zu pflegen. Echte Freunde teilen nicht nur Sorgen und Glücksmomente sondern auch ganz Alltägliches. Sie sind füreinander da. „Ein Freund steht allezeit zu dir, auch in Notzeiten hilft er dir wie ein Bruder“, steht in der Bibel im Buch der Sprüche. Ich würde sogar noch weitergehen. Oft sind uns Freunde nämlich näher als Blutsverwandte – sie sind Wahlverwandte und Wunschgeschwister. Wir brauchen sie. Und daran kann auch keine Pandemie etwas ändern.
Folgen Sie Julia Schnizlein auch auf Instagram:
@juliandthechurch