Rituale des Alltags
Michael Chalupka über eine Zeit des Essens
Wer schon einmal versucht hat, einen Italiener zwischen 12 und 3 Uhr nachmittags telefonisch zu erreichen, hört immer nur das Eine: „è a pranzo“. Er ist beim Mittagessen. Zu Mittag ist alles geschlossen, und es wird gegessen. Der Tisch steht im Zentrum einer großen Nation, zumindest in den Mittags- und Abendstunden. Und Essen braucht Zeit. Dem Primo folgt ein Secondo, und ein dolce oder frutta sind Pflicht.
Nicht umsonst ist die Slow Food-Bewegung in Italien entstanden. Sie stemmt sich den „Fast Food“-Ketten entgegen. Denn Essen braucht Zeit und Raum. Braucht einen Tisch und Sessel zum Sitzen. Essen sollte niemand allein.
Primo, secondo und dolce ist eine weltliche Liturgie. Dem schweigenden Genuss folgen Passagen, in denen das Wort im Zentrum steht, Rede und Widerrede, unterbrochen vom Klang der Gläser, die Kontemplation einleiten. Der rituelle Abschluss ist immer gleich: un caffè. Das Ritual lebt von der Wiederholung, zweimal täglich. Fällt es einmal aus, gerät die Welt ins Wanken.
Eine der schönsten Abendmahlsdarstellungen, die ich kenne, stammt ebenfalls aus Italien. Es ist das „Abendmahl von Emmaus“ von Michelangelo Merisi de Caravaggio, neben Brot und Wein finden sich da natürlich auch ein knusprig gebratenes Hühnchen und ein Korb mit frischen Früchten auf dem Tisch. Denn die Jünger erkannten den auferstandenen Jesus im Gespräch und am Ritual. Das Ritual des Mahls gibt dem Alltag Halt.