Körtner: Reflektiert-kritischer Umgang mit Religion statt Verbannung aus Schulen
Theologe warnt in „Die Presse“-Gastkommentar davor, Religion durch Pflichtfach Demokratie zu ersetzen
Wien (epdÖ) – „Ist Demokratie jetzt die neue Religion?“ Dieser Frage geht der evangelische Theologe Ulrich Körtner mit Bezug auf eine aktuelle politische Debatte in einem Gastbeitrag für die Tageszeitung „Die Presse“ vom 14. Juni nach. Dabei spricht sich Körtner gegen die in einer Petition ausgedrückte Forderung der Neos und deren Wiener Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr aus, das Fach Religion durch ein Pflichtfach Demokratie zu ersetzen.
„Religion ist ein ambivalentes Phänomen“, schreibt Körtner. Sie könne Humanität, Gemeinschaft und Solidarität fördern, aber auch gefährden. Religionen können friedensstiftend wirken, aber auch Gewalt legitimieren. Die Religionsgeschichte sei reich an Beispielen für das eine wie für das andere. „Religion kann Menschen zusammenführen, aber auch trennen. Die Neos richten den Blick vor allem auf die Menschen trennende und gewaltaffine Seite von Religion, wobei offenkundig der Islam im Fokus steht“, kritisiert der Ordinarius für Systematische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.
Zwar werde die verfassungsrechtlich garantierte Religionsfreiheit von den Neos gutgeheißen, „aber in ihrer Petition mit einem gewissen Argwohn betrachtet, weil unter ihrem Deckmantel demokratiefeindliche Einstellungen gedeihen können“, räumt Körtner ein. „Die Konsequenz daraus sollte aber nicht Verbannung der Religionen aus den öffentlichen Schulen sein, sondern die Erziehung der Schüler zu einem reflektierten und kritischen Umgang mit Religion. Das aber ist der Anspruch eines wissenschaftlich fundierten Religionsunterrichts“, betont der Theologe.
Es sei keineswegs ausgemacht, ob der bestehende Ethikunterricht in gleicher Weise zu einer kompetenten und hinreichend differenzierten Auseinandersetzung mit den konkreten Religionen befähige. „Die Religionskenntnisse, die im Studium für den Ethikunterricht und in den Schulbüchern vermittelt werden, gehen nicht sonderlich in die Tiefe. Das von den Neos angedachte Schulfach ‚Leben in der Demokratie‘ scheint für die Beschäftigung mit Religion erst gar keinen Platz vorzusehen“, bemängelt Körtner.
Er warnt davor, dass die Verbannung von Religion aus dem Schulunterricht destruktive Kräfte „ins subkulturelle Milieu und in geschlossene Gruppierungen“ dränge. Diese seien „ein Nährboden für Fundamentalismen aller Art“ und würden „Tendenzen der Selbstabschottung und Polarisierung eher noch bestärken“. Zugleich werde es dem Phänomen der Religion grundsätzlich nicht gerecht, „Religionen einseitig auf ihr destruktives Potenzial“ zu reduzieren.
Körtner begrüßt grundsätzlich Religionskritik, allerdings sollte diese ihren Blick nicht nur auf die Schattenseiten bestehender Religionen richten, sondern „auch auf die Überhöhung der Demokratie zur neuen Religion im säkularen Zeitalter“. Die radikale Trennung von Kirche beziehungsweise Religion und Staat wie in Frankreich zeige keineswegs eine pazifizierende Wirkung.
„Die Demokratie verdient als Staatsform jede Unterstützung. Sie ist aber kein Glaubensgegenstand – und darf es auch nie werden, weil jeder religiös überhöhte Staat und jede solchermaßen überhöhte Staatsform mit einem religiösen Absolutheitsanspruch verbunden wird, der letztlich freiheitsgefährend ist“, bekräftigt Körtner. Es könne nur zum Schaden Europas sein, wenn seine christlichen Prägekräfte wie das Christentum und die Aufklärung zeitgeistig marginalisiert werden. „Zur europäischen Geschichte gehört aber auch das jüdische und mit gewissen Einschränkungen und Brechungen auch ein islamisches Erbe“, erklärt der Theologe.
Für die Zukunft unseres Landes und die Zukunft Europas komme es schließlich entscheidend darauf an, dass Religion und die einzelnen Religionen nicht einseitig als Bedrohung, sondern als Ressource einer modernen Gesellschaft begriffen und gefördert werden. „Ob sie eher das eine oder das andere sind, hängt nicht zuletzt davon ab, wie Schülerinnen und Schülern ein reflektierter Umgang mit Religion vermittelt wird“, so Körtner.