Enttäuscht

 
von Evangelischer Pressedienst

Julia Schnizlein über falsche Erwartungen

Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. Ich war zu spät. Nur 10 Minuten. Entscheidende 10 Minuten. Minuten, in denen die Partnerwahl für den Tanzkurs gefallen war. Da standen sie – der Junge, in den ich heimlich verliebt war und meine beste Freundin. Und mir standen die Tränen in den Augen.
Sie hätte es doch ahnen können, dass ich verliebt war. Und er – hätte er nicht diese 10 Minuten warten können?
Ich war so maßlos enttäuscht. Meine Hoffnung, meine Erwartungen hatten sich in Luft aufgelöst. An den Rest des Tanzkurses kann ich mich kaum erinnern – Wut und Frust waren meine ständigen Begleiter.

Natürlich blieb das nicht die einzige Enttäuschung meines Lebens. Wie bei allen Menschen werden auch bei mir viele kleine und große Erwartungen tagtäglich enttäuscht. Jetzt zum Beispiel, während Sie diese Zeilen lesen, hatte ich gehofft, meine Eltern in Deutschland besuchen zu können. Die Covid-Reisebestimmungen machen das unmöglich.

Im Gegensatz zu früher habe ich heute aber gelernt, mit Enttäuschungen besser umzugehen. Ich versuche nicht mehr, die Enttäuschung hinunterzuschlucken, um ihr so den Weg in Herz und Kopf zu bahnen, wo sie Gedanken und Gefühle vergiftet. Heute lasse ich Enttäuschung zu. Um sie dann loslassen zu können.

Ich versuche auch, meine eigenen Erwartungen und dementsprechende Enttäuschungen nicht zu sehr auf andere zu projizieren. Denn wie kurz der Weg zwischen „Hosianna – Hilf doch“ und „Kreuzige ihn!“ ist, hat uns die Passionsgeschichte Jesu gezeigt. Innerhalb weniger Tage wünschten jene, die ihn am Stadttor von Jerusalem euphorisch begrüßt hatten, Jesus ans Kreuz. Weil er anders war, als sie es erwartet hatten.
Bis heute neigen Menschen dazu, andere auf ein Podest zu heben – Fußballtrainer, Politiker oder neue Partner zu Lichtgestalten aufzubauen. Kommt es anders, als erhofft, macht sich Enttäuschung breit und die neuen Helden werden brutal von jenem Podest gestürzt, auf das sie zuvor gehoben wurden.
Manche sagen, Enttäuschungen hätten ihr Gutes, denn sie seien das Ende der Täuschung. Ich glaube, eine große Täuschung liegt in der Erwartung, dass andere unsere Erwartungen erfüllen müssten.

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