„Die Sympathisanten bilden das entscheidende Potenzial“
Interview zum Thema "Kirchenbindung" mit Dr. Gerhard Wegner
Wie zugehörig fühlen sich die Mitglieder zur Kirche? Jahr für Jahr treten zwischen 1 und 1,5% der Mitglieder aus der Evangelischen Diözese A.B. Wien aus, genauso wie in Deutschland. Ein Interview über unterschiedliche „Bindungstypen“ mit Dr. Gerhard Wegner, Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), das im Magazin "Evangelisches Wien" im März 2018 erschienen ist.
Evangelisches Wien: Herr Wegner, wie oft begegnet Ihnen in Ihrer Arbeit am Sozialwissenschaftlichen Institut der EKD das Thema „Kirchenbindung“?
Gerhard Wegner: Das Thema zieht sich durch unsere Institutsarbeit in Hannover seit das Institut 2004 gegründet wurde. Die Probleme, Menschen an die Kirche zu binden, sind evident. 1 bis 1,5 Prozent der Mitglieder treten jährlich in Deutschland aus der Kirche aus. Und es ist im Augenblick nicht zu erkennen, dass der Rückgang der Kirchenmitglieder an ein Ende kommen würde. Im Prinzip läuft bei allen unseren Untersuchungen im Hintergrund auch die Frage der Kirchenbindung und der Plausibilität von Kirche mit. So gibt es gezielt zu dem Thema, was man in Richtung Kirchenbindung machen, immer wieder viele Überlegungen.
Evangelisches Wien: Und was denken Sie, was zu tun ist für die Kirchenbindung?
Gerhard Wegner: Wenn man Kirchenbindung forcieren will, dann muss man sie zunächst wollen. In Deutschland haben wir im Grunde genommen überkommene staatskirchliche Strukturen. Natürlich ist die Evangelische Kirche keine Staatskirche, aber in der Mentalität der Menschen ist es so, dass die Kirche wie eine Dienstleistung vorgehalten wird für die man Steuern zahlt. Nur wenige Menschen spüren deswegen die Notwenigkeit, sich auch wirklich für die Kirche zu engagieren, sich an die Kirche zu binden. Die Kirche ist doch sowieso da, da braucht man sich doch gar keine große Gedanken zu machen; selbst wenn man austritt, bleibt die Kirche mit ihren Dienstleistungen präsent.
Auch von kirchlicher Seite wirkt sich dieser Struktur-Gedanke aus. Natürlich gibt es Werbung für die Kirche, die wird gut gemacht – aber die Power dahinter ist nicht so stark entwickelt. Das hat auch damit zu tun, dass die Kirchen in Deutschland nach wie vor über die Kirchensteuer finanziert werden und abgesichert sind. Das vermindert den Druck, wirklich in diese Richtung Werbung zu machen. Wenn man eine normale, amerikanische Kirchengemeinde dagegenhält, die sich selbst finanzieren muss und die mit 400 Mitgliedern Pastor*in, Kantor*in, Küster*in und Kirche finanzieren muss, dann sieht das ganz anders aus. Dann gibt es eine ganz andere Notwendigkeit, Mitglieder zu werben.
Evangelisches Wien: Was ist den Menschen an der Kirche wichtig?
Gerhard Wegner: Das sind ganz deutlich drei Bereiche: Der Allerwichtigste ist alles, was sich um Familien dreht. Von Kindern bis zu Älteren sowie Familien-Events. An der Verbindung von Kirche und Familie hängt sehr viel, wie die Weitergabe des Glaubens, die religiöse Sozialisation. Die lässt sich ohne den familiären Kontext kaum gestalten.
Der zweite Punkt sind die Lebensrituale, allen voran die Taufe, aber auch die Konfirmation, Hochzeit und Beerdigung. Auch Schulanfangsgottesdienste zähle ich dazu.
Der dritte Punkt ist der soziale Bereich, das soziale Engagement in den Kirchengemeinden oder das Engagement der Diakonie. Wenn man die Leute fragt, warum bist Du in der Kirche, dann geben sie zunächst an, weil Kirche für ein gutes soziales Klima sorgt. Das wird in Österreich gewiss nicht viel anders sein.
Evangelisches Wien: Welche „Bindungstypen“ gibt es in der Kirche?
Gerhard Wegner: Wir versuchen die unterschiedlichen Bindungen an die Kirche zu kategorisieren, sprich differenzierter zu beschreiben. Seit 1973 erhebt die EKD alle zehn Jahre eine umfassende „Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung“ – die KMU. 2013 wurden für die fünfte KMU erneut zahlreiche Mitglieder befragt. Aus den Ergebnissen lassen sich vier Kategorien herausrechnen: die hochverbundenen Mitglieder (1), der Sympathiekreis der Kirche (2), die Distanzierten (3) und die der Kirche eher gleichgültig gegenüberstehenden Indifferenten (4).
Die Hochverbundenen machen 13 bis 15% der gesamten Kirchenmitglieder aus. Es sind die aktiven Mitglieder, die sich in der Kirche engagieren. Der Sympathiekreis macht etwa 45% aus – hier sind die Hochverbundenen eingerechnet. Diese Sympathisanten sagen von sich, dass sie sich ihrer Kirche und ihrer Pfarrgemeinde verbunden fühlen. Die Sympathisanten, die nicht hochverbunden sind, beteiligen sich individuell und eher partiell am Angebot der Kirche. Die dritte Gruppe machen die klassisch distanzierten Kirchenmitglieder mit etwa 40% aus. Sie nehmen an den Lebensritualen teil, sagen aber von sich, dass sie mit religiöser Kommunikation – zum Beispiel mit dem Beten – nichts mehr zu tun haben. Die verbleibenden etwa 5 bis 10% Prozent sind die Indifferenten, die kaum eine Beziehung zur Kirche haben.
Alle vier Gruppen haben unterschiedliche Bedürfnisse. Sie unterschieden sich auch in der Erreichbarkeit: je distanzierter die Kirchenbindung, desto schwieriger wird es mit den Menschen zu kommunizieren. Es steigt der technische Kommunikationsaufwand, wie ich die Menschen erreiche, durch welche Medien. Aber auch der inhaltliche, der Plausibilisierungsaufwand. Sprich: wie mache ich deutlich, dass Kirche auch eine Bedeutung für deren Leben hat.
Evangelisches Wien: Angesichts der Austrittszahlen: Welcher Gruppe sollte sich die Kirche verstärkt widmen?
Gerhard Wegner: Ich sehe in der Gruppe der Sympathisanten das entscheidende Potenzial der Kirche, die sollten gut eingebunden werden. Und binden heißt, dass gut mit ihnen kommuniziert wird. Das ist der entscheidende Punkt. Da gibt es viele Wege. Klassisch über Gemeindebriefe, die eine große Rolle spielen. Wichtig sind auch die digitalisierten Formen der Kommunikation. Meiner Meinung nach kommt alles darauf an, die Kommunikation auf diese Gruppe abzustellen und sie gut mit Informationen und Angeboten zu versorgen, um diese Gruppe zu stabilisieren.
Ein Beispiel: Zum Reformationstag am 31. Oktober 2017, im Jubiläumsjahr der Reformation, platzten die Kirchen überall aus allen Nähten - zur Überraschung vieler. Meine These ist, dass wir am 31. Oktober genau dies Potenzial dieser 45 Prozent angezapft haben. Die sind gekommen, weil sie mitkriegten, dass der Reformationstag mit ihrer Kirche, ihrer Pfarrgemeinde zu tun hat und zudem eine hohe kulturelle und politische Bedeutung hat.
Die Kirche muss also überlegen, mit wem kommunizier ich wie. Technisch und inhaltlich. Denn Kirche ist immer wieder da gut, wo es ihr gelingt, Angebote zu machen, die auf ganz bestimmte soziale Milieus zugeschnitten sind und die Kirche für die sozialen Milieus plausibel und relevant darstellen. Ein Musterbeispiel dafür ist der Deutsche Evangelische Kirchentag, der sich an ein politisch ausgerichtetes Klientel richtet. Oder die klassische Kirchenmusik, die für das klassische Bildungsbürgertum ein wichtiger Identifikationsfaktor ist und das Bildungsbürgertum mit der Kirche verbindet.
Wo es der Kirche gelingt, solche Symbiosen mit bestimmten Lebensstilen herzustellen und dauerhaft zu kultivieren, da bindet sie die Menschen gut und sozusagen mit ihrer Zustimmung. Dann fühlen sich die Menschen in der Kirche als ihrer Heimat wohl.
Evangelisches Wien: Gibt es grundsätzliche Faktoren, die Kirche innehaben muss, um die Bindung an die Kirche stärken?
Gerhard Wegner: Wir haben 2014 fünf Erfolgsfaktoren für eine gelingende Kirchenbindung entwickelt. Sie ergeben sich durch das Weiterdenken der aus der empirischen Forschung bekannten Bindungsfaktoren an christliche Kirchen. Es sind:
1. „Freundlichkeit, Zugänglichkeit, Offenheit“. Dabei ist entscheidend, dass eine Kirche von außen nur freundlich wahrgenommen wird, wenn sie es auch von „innen“ ist. Die Außenwendung der Kirche wird bei diesen Erfolgsfaktoren mit religiöser Konzentration zusammengedacht. Die religiöse Rückbindung an den Glauben ist für mich entscheidend.
2. „Vertrauensbildung“. Durch Integration und sozialen Nutzen der Kirche für das Gemeinwesen vertrauen die Mitglieder ihrer Kirche.
3. „Etwas wollen“. Die Mitglieder einzubinden und ihnen Aufgaben zu übertragen stärkt die Bindung.
4. „Verpflichtung“. Damit ist die eigene Verpflichtung der Mitglieder gemeint, die aus sich selbst heraus Kirche gestalten und erneuern wollen. Diese Bindung hebt Kirche von anderen, zivilgesellschaftlichen Non-Profit-Organisationen ab. Genauso wie der fünfte Faktor:
5. „Ergriffensein“. Das Erleben und die Erfahrung des eigenen Glaubens sind auf lange Sicht existentiell.
Alle fünf Erfolgsfaktoren laufen in ihrem Kern auf diesen Faktor „Ergriffensein“ zu. Wo eine entsprechende Erfahrung dauerhaft ausfällt, da wird auch bei aller äußeren guten Ressourcenausstattung die Kirchenbindung auf Dauer krisenhaft werden. Dieser letzte, entscheidende Faktor ist umso kniffeliger im Angesicht sinkender Mitgliederzahlen, da nur etwa 20% aller Kirchenmitglieder – also weniger als die Hälfte der Sympathisanten – von sich selbst sagen, dass sie sich religiös betätigen.
Evangelisches Wien: Vielen Dank für das Interview, Herr Wegner!
Informationen zum Interviewpartner:
Prof. Dr. Gerhard Wegner ist Institutsdirektor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) (www.si-ekd.de). Das Institut forscht im zivilgesellschaftlichen, im sozialethischen und im Bereich Kirchen- und Religionssoziologie. Außerdem ist Wegner apl. Prof. für Praktische Theologie an der Universität Marburg.