Evangelisch in Japan

 
von Evangelischer Pressedienst

Eine Spurensuche im Olympia-Gastgeberland

„Die Geschwister sind der Fremden Anfang“, weiß ein altes japanisches Sprichwort – „Kyōdai wa tanin no hajimari.“ Selbst die nächsten Menschen im Leben bleiben einem ganz tief drinnen fremd. Und wie ist das in Japan dann erst mit einer Religion, die aus dem Ausland kommt? Die erst nach mehreren hundert Jahren der völligen Isolation des Landes mit internationalen Handelstreibenden erfolgreich einen Fuß auf die japanischen Inseln setzte? Mit anderen Worten: Sind das Christentum und der evangelische Glauben heute noch fremd in Japan – dem Gastland der diesjährigen Olympischen Spiele, das wiederum uns in so vielem fremd ist?

Pfarrer Yasuhiro Tateno mit seinem Enkelkind vor der Lutherischen Kirche in Hiroshima. Foto: privat

„Das Christentum ist fremd, denn der Schöpfergott ist hier einfach nicht verankert“, sagt Marcus Tyburski. Er und seine Frau Bettina Roth-Tyburski leben seit drei Jahren in Tokyo. Die Deutschen sind 2018 als Pfarrerehepaar für die deutschsprachige evangelische Gemeinde in die japanische Hauptstadt gekommen. „Das Christentum ist aber auch lange bewusst fremd gehalten worden“, ergänzt Tyburski. Wer die Fremdheit des christlichen Glaubens verstehen will, muss also auch in die Geschichte blicken. 300 Jahre lang – praktisch seit den ersten Missionsversuchen – wurden Christinnen und Christen im Zuge einer antiwestlichen Politik des Landes verfolgt. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts öffnete sich Japan für den globalen Handel – und damit nicht nur für den Austausch von Waren, sondern auch von Ideen und Glaubensüberzeugungen. Etwas weniger als zwei Millionen Japanerinnen und Japaner bekennen sich nach behördlichen Angaben heute zum Christentum – etwa 1,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Jeweils zwei Drittel der Bevölkerung fühlen sich Shintoismus oder Buddhismus zugehörig – jeweils, da viele Riten aus beiden Religionen praktizieren.

Shintoistisch geboren, christlich verheiratet, buddhistisch beerdigt

Dank dieser interreligiösen Durchlässigkeit haben die Einwohner Japans einen ganz eigenen Zugang zum Christentum gefunden. Der hat nichts mit konfessioneller Bindung zu tun und spiegelt sich daher nicht in Statistiken wider: „Viele Kinder erhalten eine christliche Kindergarten- und Schulerziehung. Dadurch werden natürlich auch christliche Werte und Feste vermittelt“, erzählt Pfarrerin Bettina Roth-Tyburski. Wenngleich die wenigsten Kinder danach zum Christentum konvertierten, entwickle sich doch Wertschätzung dafür. Versatzstücke christlichen Glaubens würden dann in das eigene religiöse Leben integriert: „Es gibt so ein Sprichwort: Man wird shintoistisch geboren, heiratet christlich, und lässt sich buddhistisch beerdigen“, bringt Pfarrer Tyburski die weit verbreitete Haltung auf den Punkt. Die kann durchaus skurrile Züge annehmen, etwa im Falle von Hochzeiten in ‚Fake Churches‘, quasi Kirchenattrappen wie in Disneyland. „Man sucht sich einen westlich aussehenden Mann, der zieht sich eine schwarze Robe über, hält so etwas wie eine Liturgie, die Glocke läutet – alles wird imitiert, und da ist das Christentum dann gar nicht fremd, sondern attraktiv.“ Mehr als jede zweite Hochzeit in Japan soll mittlerweile so zelebriert werden.

Aber auch das spezifisch „Deutsche“ aus dem Heimatland der Reformation entwickelt einen speziellen Reiz. So kommen – neben den Auslandsdeutschen oder Japanern mit beruflichem oder privatem Bezug zu Deutschland – sogar Einheimische in die Gottesdienste der deutschen Gemeinde, die kein einziges Wort Deutsch sprechen: „Die kommen teilweise jeden Sonntag und wollen das deutsche Ambiente und die Atmosphäre erleben. Auch zu unserem Adventsbasar kommen viele Japaner, die diese ‚richtig deutschen‘ Adventsfeiern toll finden“, erzählt Roth-Tyburski.

Pfarrerin Bettina Roth-Tyburski und Pfarrer Marcus Tyburski. Foto: privat

Umgekehrt verändert freilich die japanische Kultur das Leben in den evangelischen Gemeinden. „Manche glauben, dass das Christentum in Japan von der japanischen Zivilreligion ‚Nihon-kyo‘ gezähmt oder domestiziert wurde, die alles relativiert und an Japan anpasst – nicht nur das Christentum, sondern auch den Buddhismus“, sagt Toshihiro Takamura. Der Japaner hat in den USA studiert, jetzt ist er lutherischer Pfarrer in Mitaka, unweit von Tokyo. „Das bedeutet aber immer auch, dass Wesentliches und Einzigartiges aus der Kernbotschaft des Christentums verloren geht“. Takamura ist aber überzeugt, dass das überall auf der Welt geschieht, nicht nur in Japan.

Kein öffentliches Bekenntnis

Wie viele Evangelische es in dem Land im fernen Osten genau gibt weiß niemand so genau – vermutlich etwa eine halbe Million. Dass es keine eindeutigen Zahlen gibt, liegt auch daran, dass sich die japanischen Kirchenstrukturen nur schwer mit denen in Österreich oder Deutschland vergleichen lassen. Landeskirchliche Organisationen sind nur schwach ausgeprägt, der Austausch zwischen den Gemeinden ist verschwindend. Die einzelnen Pfarrgemeinden lebten ein Leben für sich, beobachtet das deutsche Pfarrerehepaar, das vor seinem Engagement in Japan vierzehn Jahre in der Westfälischen Kirche gearbeitet hatte: Grund dafür sei sowohl die extrem ausgeprägte Diasporasituation, aber auch die japanische Mentalität: „Die Menschen hier sind zurückgezogener, vorsichtiger. Wir waren zuvor im Münsterland, da sind die Leute auch nicht alle super offen, aber wir haben hier schon den Eindruck, dass sich gewisse japanische Charakterzüge auf die Gemeinden auswirken“, beobachtet Bettina Roth-Tyburski. Entsprechend unterschiedlich seien einander die einzelnen Gemeinden: „Die Vielfalt, die wir aus Europa und Amerika kennen, bündelt sich hier auf Grund der missionarischen Einflüsse des 19. Jahrhunderts. Da sind Gemeinden entstanden, die sind in ihrer Ausrichtung so vielfältig wie es die Missionare selbst eben waren“, erklärt ihr Mann. Und das hält sich bis heute. Anders als in Europa oder noch mehr in den USA sei ein öffentliches Bekenntnis zum Christentum hingegen nicht üblich, meint der japanische Pfarrer Takamura. Das hänge mit dem Terroranschlag einer religiösen Sekte auf die Tokyoter U Bahn im Jahr 1995 zusammen. 13 Menschen starben. 1000 wurden verletzt: „Danach wurden die Japaner sehr skeptisch jedem gegenüber, der einen ausgeprägten religiösen Glauben hat – das betrifft aber jede Religion“.

Volksfrömmigkeit im Vorübergehen

Gerade hier wird deutlich, wie sehr die aus Europa und den USA bekannte Frage nach der Säkularisierung oder der Religion im öffentlichen Raum in die Irre führt. Denn wenngleich die Bekenntnisbereitschaft Takamura zufolge abnimmt und kaum ein offizieller Dialog zwischen Politik und Religionsvertretern stattfindet – aus dem Leben der Japanerinnen und Japaner ist die religiöse Praxis nicht wegzudenken: „Die Form der Religiosität ist mit unserer kaum zu vergleichen“, betont Pfarrer Tyburski. „Weder im Shintoismus noch im Buddhismus gibt es Gemeinden, die sich regelmäßig zum Gottesdienst versammeln. Es ist Sache des Individuums, man geht zu den Schreinen, den Tempeln, und betet dort.“ Hier sei eine lebendige Volksfrömmigkeit vorhanden. „Ich glaube nicht, dass die zurückgeht, da sie den Alltag nicht sehr beeinflusst. Man macht das im Vorübergehen.“ Der japanische Pfarrer Toshihiro Takamura beschreibt das so: „Unsere Gesellschaft ist säkular, auch wenn es eine gewisse Spiritualität in unserer traditionell eklektizistischen Religion gibt.“ Viele Japaner würden sich als Atheisten bezeichnen, ihre tatsächliche Haltung sei aber eher agnostisch: „Die Menschen glauben an etwas, das größer ist als die menschliche Existenz.“

„Was wird gesungen?“

„Die Japaner lieben Musik!“ Die, die das sagt muss es wissen: Schließlich ist die gebürtige Japanerin Yasuko Yamamoto Diözesankantorin der Wiener evangelischen Superintendenz. Die Liebe zur Orgel hat sie nach Europa geführt. Die Begeisterung der Japanerinnen und Japaner für die Klänge zeigt sich auch in den Gottesdiensten. „Japanische Lutheraner singen gerne und hören gerne Bach“ – auf japanisch, erzählt Yamamoto. Das berichtet auch Pfarrer Toshihiro Takamura: In vielen lutherischen Gemeinden würden traditionelle Lieder gesungen. Die Evangelisch lutherische Kirche in Japan habe zudem ein eigenes Gesangbuch, das neben englischen und deutschen auch skandinavische Gesänge umfasse

Und wie ist das mit dem Kaiser, der als formelles Staatsoberhaupt zugleich Oberhaupt der Mehrheitsreligion des Shintoismus ist? Dieser Verbindung will Takamura keine zu große Bedeutung beimessen. Die wachsende Zahl an Nationalisten wolle zwar politisches Kleingeld aus dem Verhältnis von Kaisertum zu Shintoismus schlagen, kritisiert er, aber der Großteil der Bevölkerung sehe den Tenno, wie der japanische Kaiser genannt wird, nicht im Lichte der Religion. „Es ist wichtig zu sehen, dass die bisherigen Tennos und der jetzige die Gefahr erkannt haben, die darin liegt, das Kaisertum mit dem Shintoismus zu verknüpfen.“

Die 10-Millionen-Metropole Tokyo: Säkular, aber von alltäglicher Frömmigkeit geprägt. Foto: pixabay

So fremd, und doch so ähnlich

Aber ist wirklich alles so fremd, wie es scheint? Nein, denn die Fragen, die die evangelischen Gemeinden umtreiben, sind die gleichen wie in Österreich: „Wir haben im Schnitt 25 Besucherinnen und Besucher im Gottesdienst. Wir sind wie ein Verein organisiert, jeder kann seinen Mitgliedsbeitrag selbst bestimmen, deshalb haben wir nicht so das Problem mit Austritten – aber wir sind schon sehr damit beschäftigt, neue Mitglieder zu gewinnen“, erklärt Bettina Roth-Tyburksi. Die Gemeinden würden im ganzen Land immer älter und die Jungen zu erreichen immer schwieriger. „Das hängt auch damit zusammen, dass Schulaktivitäten heute herausfordernder sind und es überall immer mehr Angebote gibt. Es wird immer unwahrscheinlicher, dass Familien gemeinsam Zeit in der Kirche verbringen“, bedauert Takamura. Er spart aber auch nicht mit Kritik an der eigenen lutherischen Tradition, die, wie er sagt, zum „Intellektualismus“ neige: „Das trägt zur Unbefriedigtheit der Menschen heute bei, die ungeduldig sind und immer sofort klare Antworten wollen.“ Aber auch positive Gemeinsamkeiten einen die evangelischen Kirchen in Österreich und Japan: „Ja, machen wir“, antwortet Takamura zum Abschluss lachend auf die Frage, ob man denn zu Weihnachten einen Christbaum schmücke: „Aber wir nehmen dafür doch lieber künstliche Bäume“.

„Die Geschwister sind der Fremden Anfang“, stand am Beginn dieser Zeilen. Nun: Sie mögen fremd sein. Sie bleiben doch immer Geschwister. Genauso ist es auch mit der Welt, in der die Evangelischen in Japan leben. So fremd sie sein mag – in manchem sieht sie unserer Welt doch sehr, sehr ähnlich.

Autor: Michael Windisch

Christinnen und Christen in Japan

Der christliche Glaube kam in mehreren Etappen und über viele Hürden nach Japan. Im 16. Jahrhundert erreichten erstmals Missionare das Land im fernen Osten. Ihr Glaube wurde anfangs geduldet, wegen ihres Erfolgs spricht man sogar vom „christlichen Jahrhundert“ Japans. Die Haltung änderte sich aber spätestens mit der Machtübernahme durch die Tokugawa-Shogune 1603, die Japan völlig von der Außenwelt abkapselten. Christinnen und Christen wurden verfolgt, zur Ausreise gezwungen, zur Konversionen gezungen oder hingerichtet. Dennoch praktizierten einige im Verborgenen ihren Glauben als Geheim-Christen weiter. Als sich Japan in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wieder dem Westen zu öffnen begann bedeutete das auch einen Neustart für das Christentum. Der Presbyterianer James Curtis Hepburn gilt als erster protestantischer Missionar, der Japan betrat (1859). Der erste lutherische Gottesdienst wurde 1893 gefeiert. Mit der amerikanischen Besatzung nach 1945 bekamen die Kirchen noch einmal einen Zulauf. Heute gibt es laut Regierungsangaben 1,9 Millionen Christinnen und Christen im Land (bei rund 125 Millionen Einwohnern). Schätzungen gehen von rund einer halben Million Evangelischen aus, die unter anderem lutherischen, baptistischen, presbyterianischen, methodistischen, anglikanischen oder pfingstlichen Kirchen angehören.

Der vorliegende Text ist ursprünglich ich der Augustausgabe der evangelischen Zeitung „SAAT“ erschienen. Die SAAT können Sie hier um 30 Euro pro Jahr abonnieren. Wir bedanken uns bei der Wiener Diözesankantorin Yasuko Yamamoto für die Beratung und freundliche Unterstützung.

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