Hinsehen
Michael Chalupka über das Ende des Lebensweges
Um das Grab meines Vaters rankt sich ein weißes Gewächs. Meine Mutter hat mir ein Bild davon geschickt, mit der Unterschrift „Allerheiligen in Weiß“. Natürlich wissen wir, der Vater wohnt nicht im Grab. Wir sind gewiss, er wartet auf uns in „den Himmeln“, wo immer die sind. Und doch ist das Grab ein Ort der Erinnerung, der Aussprache mit ihm und mit Gott. Zu Allerseelen sind die Verstorbenen gegenwärtiger als an den anderen Tagen des Jahreslaufs. Die Erinnerung holt uns ein. Der Tod ist auf einmal Teil des Lebens.
Das Jahr über schauen wir weniger hin. Der Tod wird verdrängt, sagt man. Doch wer könnte leben, wenn er dem Tod täglich ins Auge schauen müsste?
Hospizbegleiterinnen haben es sich zur Aufgabe gemacht, nicht wegzusehen. Doch sie schauen nicht dem Tod in die Augen, sondern den Sterbenden, den Lebenden, deren Leben sich zu Ende neigt. „Zu spät im Leben habe ich gelernt, dass ich gerne Hebamme geworden wäre, nun bin ich Geh-Amme“, meint Maria-Regina Kugler, die Menschen mit Behinderungen als Hospizbegleiterin der Diakonie zur Seite steht. Was hilft am Ende des Lebensweges? Was hilft den Angehörigen? „Meist helfen Gespräche und Zuhören, aber sehr oft auch das gemeinsame stille Aushalten der Situation.“ Wegschauen hilft nicht. Der Tod ist ein Teil des Lebens. Wie wir im Leben gesehen werden wollen, so sollen wir auch im Sterben gesehen werden. Bis Gott uns ansehen wird von Angesicht zu Angesicht.