Wen wir besuchen
Michael Chalupka über Orte der Trauer und Erinnerung
Heute besuchen wir die Toten. Die Straßenbahnen zum Zentralfriedhof in Wien fahren in verkürzten Abständen und sind voll. Was suchen wir an den Gräbern?
Wir suchen einen Ort, an dem unsere Trauer Platz hat. An dem wir weinen können und spüren, wie das Fehlen schmerzt.
Wir suchen die Erinnerung. An den Orten der Erinnerung fallen uns die Geschichten wieder ein, die wir miteinander erlebt haben, die wir gemeinsam durchlitten haben und wann wir gemeinsam gefeiert haben. Wir erinnern uns an das Leben.
Wir suchen unseren Ursprung. Wir kommen nicht aus uns selbst. Wir wurden gezeugt und geboren. Sind groß geworden in den Armen der Mütter und an der Hand der Väter ins Leben gegangen.
Wir suchen einen Ort auf, an dem wir unseren Dank zeigen können. Wir bringen Blumen, wie wir es immer getan haben zu den Festen des Lebens und wir bringen Licht, um unser Dunkel zu erhellen.
Heute besuchen wir unsere Verstorbenen am Ort ihrer letzten Ruhestätte. Aber tief in uns wissen wir auch, sie wohnen nicht dort. Aber vielleicht, das ist die Hoffnung, können wir sie dort treffen? Vielleicht fällt das Zwiegespräch mit Ihnen dort leichter am Ort der Stille und der Abgeschiedenheit?
Und tief in mir wohnt die Hoffnung, wenn ich am Grab meines Vaters und meines zu früh verstorbenen Bruders stehe, dass ein Engel erscheint, der zu mir meint: „Suche sie nicht bei den Toten. Sie leben in dir und in Gott, der das ewige Leben schenkt.“