Aufeinander zugehen
150 Jahre Diakonie
Sie gilt als die wichtigste evangelische und zugleich älteste Hilfs- und Sozialorganisation Österreichs: die Diakonie. Seit 150 Jahren setzt sich die Diakonie in Österreich für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen ein und leistet damit „Dienst am Nächsten“. Das Jubiläumsjahr 2024 feiert die soziale Einrichtung der evangelischen Kirchen Österreichs unter dem Motto „Aufeinander zugehen“ in mehreren Bundesländern. Der Festreigen begann bereits im Februar in Wien, bei dem die Wanderausstellung „Geschichte hat viele Gesichter“ Premiere feierte.
Buchstäblich handgreiflich wird die diakonische Arbeit von Pfarrgemeinden und Einrichtungen in der sozialen Lebenswelt der Menschen, dem Sozialraum. Große soziale Institutionen, die unter dem Stichwort „Heim“ bekannt sind, werden zunehmend aufgelöst. „Wir haben hier schon viele Schritte gesetzt und achten darauf, dass Menschen, die sozialen Unterstützungsbedarf haben, im Sozialraum inkludiert sind und das normale Alltagsleben mitleben“, sagt Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser. In der Wohnanlage „LeNa“ („Lebendige Nachbarschaft“) im oberösterreichischen Gallneukirchen etwa leben Menschen nach schwierigen Lebensphasen miteinander. „Wir wollen Mieter und Mieterinnen aus der Anonymität der Wohnanlage holen, sie gut miteinander bekanntmachen und vernetzen. Das bedeutet, wir kennen die Bedürfnisse und Wünsche der Bewohner*innen und finden im besten Fall gemeinsam Lösungen für ihre Anliegen“, bekräftigt Barbara Aigner-Reitbauer, Wohnkoordinatorin im Wohnquartier LeNa.
Im Jubiläumsjahr will die Diakonie ihr großes Spektrum an Leistungen und Unterstützungsangeboten hervorheben. Mit ihren 30 Mitgliedsorganisationen erbringt die Diakonie soziale Dienstleistungen in allen Bereichen – von der Kinder- und Jugendhilfe über Flucht und Integration, Behinderung und Inklusion, Bildung/Schulen und Armutsbekämpfung, Katastrophenhilfe bis hin zu Gesundheit, Pflege und Betreuung. Vielfältig verbunden arbeitet sie gemeinsam mit der Kirche und in organisationaler Gestaltungsfreiheit.
„Ein wichtiges Anliegen ist die Verbindung von Diakonie und Kirche, denn Diakonie ist Kirche, und Kirche ist in all ihren Arbeitsfeldern wesentlich diakonisch. Es braucht diese Verschränkung und das Zugehen aufeinander“, betont Moser, die seit September 2018 Direktorin der Diakonie Österreich ist und im März für eine weitere Amtsperiode gewählt wurde. So wird Diakonie sowohl in evangelischen Pfarrgemeinden als auch im Verband der Hilfs- und Sozialorganisationen der evangelischen Kirchen gelebt.
In diakonischen Werken und Einrichtungen engagieren sich haupt- und ehrenamtliche Mitarbeiter*innen aller Glaubensrichtungen mit ihrer vielfältigen Spiritualität (Konfessionslose miteingeschlossen, wie die Diakonie betont). „Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Diakonie können eigenverantwortlich arbeiten, sie haben Gestaltungsspielraum. Ich glaube, das ist etwas sehr Evangelisches“, sagt Moser.
„Gesellschaftliches Sprachrohr“
Zudem sieht sich die Diakonie als „ein gesellschaftliches Sprachrohr für die Menschen, für die wir in der Diakonie da sind“, hebt Moser hervor. Die Diakonie bringe Probleme an die Öffentlichkeit und mache sozialpolitische Vorschläge, wie diese Situationen und Rahmenbedingungen, unter denen Menschen leben, verbessert werden können. Ein wichtiger Sozialraum für viele Menschen ist auch „JUNO“, die Jugend-Notschlafstelle der Diakonie in Villach. Neben einer Notschlafstelle für Jugendliche und junge Erwachsene zwischen 12 und 21 ist die JUNO eine Anlauf- und Beratungsstelle, wenn es im sozialen Umfeld Probleme gibt. „Die Mitarbeiter*innen hier waren immer für mich da, als es mir sehr schlecht gegangen ist. Ich hatte jemanden zum Reden, hauptsächlich wegen meiner Drogensucht“, erzählt Paul.
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„Um Menschen ein Leben in Fülle zu ermöglichen, begleiten wir sie dabei, ihre Gaben wachsen zu lassen. Und wir setzen uns für Rahmenbedingungen ein, damit Menschen ihre Gaben auch einsetzen können“, erklärt Moser, die in der Diakonie einen fähigkeiten- und ressourcenorientierten Ansatz sieht. So ist die Unterstützung bei der Vorbereitung auf die Berufswelt ein wichtiges Anliegen der Diakonie.
Es begann in Gallneukirchen
Mit der „Wahrnehmung von Not“ als Beginn diakonischen Handelns erinnert eines der zwölf Prinzipien der Diakonie an ihre eigene Entstehungsgeschichte. Groß war die Not – und deren Wahrnehmung durch die evangelische Kirche – infolge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Katastrophale Arbeitsbedingungen, Landflucht, Arbeitslosigkeit, Invalidität, Krankheit und Alter führten damals zu neuen Formen von Armut. Immer mehr Kinder lebten auf der Straße. Ebenso katastrophal waren die Zustände in den Hospitälern. Mit der traditionellen kirchlichen Armenpflege waren diese Zustände nicht mehr zu bewältigen. Neue Formen des sozialen Engagements in freien Vereinen, Stiftungen und Einrichtungen entstanden: die „organisierte Diakonie“.
„Glaube und Heimat“ 2024 beschäftigt sich ebenfalls ausführlich mit dem Jubiläum der Diakonie.
1861 wurde in Wien der „Evangelische Waisenversorgungsverein“ gegründet. Als Gründungsjahr der Diakonie in Österreich gilt jedoch – in Anlehnung an die Gründung der Inneren Mission in Deutschland – 1874: Am 3. Jänner genehmigte die Statthalterei Linz die Zulassung des durch Pfarrer Ludwig Schwarz (1833–1910) gegründeten „Evangelischen Vereins für Innere Mission in Gallneukirchen“ (heute: Diakoniewerk). Ludwigs jüngerer Bruder Ernst gründete eine Kinderrettungsanstalt, aus der die Diakonie Waiern entstand. Bekannt ist die Anstalt heute unter „Diakonie de La Tour“, benannt nach Elvine de La Tour (1841–1916), der Gründerin der Evangelischen Stiftung de La Tour in Treffen/Kärnten.
In ihrer Wanderausstellung und ihrem Heft „Geschichte hat viele Gesichter“ zum Jubiläumsjahr 2024 erzählt die Diakonie ihre lange Geschichte – allerdings nicht als Geschichte von Organisationen, sondern in Form der zahlreichen und vielfältigen Geschichten von Personen wie Gründer*innen, Mitarbeiter*innen, Klient*innen und Diakonissen, die über die Jahrzehnte Diakonie gelebt, erlebt und geprägt haben. Eine von ihnen ist Schwester Helga Sikora, die seit 1988 Diakonissen-Oberin war und im Juni verstorben ist. Das frühere Vorstandsmitglied im Diakoniewerk Gallneukirchen war die längst dienende von insgesamt sieben Oberinnen seit der Gründung der Schwesternschaft vor 150 Jahren. In der Jubiläumsschrift der Diakonie hebt sie ein Lebensmotto zu ihrem eigenen 50-jährigen Schwesternjubiläum hervor: „Ein großartiges Erbe vertrauensvoll in die Zukunft tragen“.
Michael Link
DIAKONIE ÖSTERREICH
Die Diakonie Österreich ist der Dachverband aller diakonischen evangelischen Anbieter in Österreich. Sie besteht aus 30 Mitgliedsorganisationen und hat ihren Sitz in Wien. Die Diakonie ist eine der fünf größten österreichischen Wohlfahrtsorganisationen. Zu ihren Kernkompetenzen zählen Altenarbeit und Pflege, Arbeit mit Menschen mit Behinderungen und Inklusion, Hilfe für Kinder und Jugendliche, Ausbildung, Sozialraumorientierung, Hospiz, Gesundheit, Flucht und Integration sowie soziale Krisen.