Selbst im Spiegel

 
von Evangelischer Pressedienst

Selbstfixierung lässt den Blick auf die Welt nicht zu, warnt Maria Katharina Moser.

Ein Detail des Gemäldes, vor dem ich stehe, zieht meinen Blick auf sich: Ein Teufel, roter Kopf, grüne Arme und Beine, die Brust schildkrötengepanzert, hält einer jungen Frau einen Spiegel vor. Mit leicht geöffnetem Mund, die Augenlider auf Halbmast starrt sie auf ihr eigenes Bild. Um sie herum Grauen und Pein. Doch das scheint sie gänzlich unberührt zu lassen, sie wirkt gefangen im Blick auf sich selbst.

Es ist ein Detail aus einer Darstellung des Jüngsten Gerichts auf dem ehemaligen Hochaltar der Jakobuskirche in Pfullendorf (nun im Augustinermuseum in Freiburg). Gemalt wurde es Ende des 15. Jahrhunderts. Zu dieser Zeit hatte sich die Herstellung von Glasspiegeln in Europa gerade etabliert. Rund geblasenes Glas wurde auf der Rückseite mit Metall beschichtet. Man erkennt die Technik auch auf dem Altarbild. Kuppelartig wölbt sich das Spiegelbild der jungen Frau entgegen.

Spiegelbilder haben die Menschen schon immer fasziniert. Die ersten Spiegel waren wohl glatte Wasseroberflächen – wie jene des Teiches, in dem sich dem antiken Mythos zufolge Narziss spiegelt. Dass es sich bei dem Bild um sich selbst handelt, ist ihm freilich nicht bewusst. Und prompt verliebt er sich in den Jüngling, der ihn da anblickt. Die ersten von Menschenhand produzierten Spiegel waren aus poliertem Stein und Metall, bis der Glasspiegel erfunden wurde. Heute werden uns auch Kameras zu Spiegeln: Wir schauen uns selbst auf Selfies und während Zooms auf den Bildschirmen unserer Computer und Tablets entgegen.

In der Ikonografie steht der Spiegel zum einen für die Kardinaltugend der Klugheit. Der kluge Mensch hält sich selbst einen Spiegel vor und denkt nach über sein Handeln. Zum anderen ist der Spiegel – wie auf der Darstellung vom Jüngsten Gericht – Symbol für die Superbia, die Todsünde des Hochmuts, der sich selbst zum Mittelpunkt der Welt macht.

In der Tat, es ist gut und wichtig, sich selbst zu reflektieren. Unser Denken und Tun zu prüfen. Darüber nachzudenken, wer wir sind und wer wir sein wollen. Die Redewendung „Ich möchte in den Spiegel schauen können“ kommt nicht von ungefähr. Vom eigenen Bild geht aber auch eine gewisse Macht aus, es droht den Blick zu fesseln. Ich habe das während Videokonferenzen an mir selbst beobachtet. Immer wieder ist mein Blick weg von den anderen, hin zu meinem eigenen Bild geglitten. (Ich war erleichtert, als mir ein Bekannter gezeigt hat, wie man bei Zoom und Teams das eigene Bild ausblenden kann.)

Der Blick auf sich selbst, so notwendig er ist, kann zur beständigen Selbstbespiegelung werden. Auf uns selbst fixiert, nehmen wir die Welt um uns nicht wahr, bleiben unberührt von anderen, ihrer Freud und ihrem Leid. Eine teuflische Versuchung.

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