Wählen in Freiheit
Michael Chalupka erinnert sich an einen besonderen Gottesdienst kurz nach der Wende
In zwei Wochen wählen wir das Europäische Parlament. Und Österreich redet über die privaten Chats einer jungen Frau. Dabei ist Demokratie eine ernste Sache. Das wurde mir spätestens bewusst, als ich vor mehr als dreißig Jahren im Bezirk Mistelbach an der tschechischen Grenze Pfarrer war. Da habe ich während der samtenen Revolution in der ČSSR meinen Kollegen Pfarrer Šimša in Znaim kennengelernt. Weit über Siebzig, war er ein entschiedener Gegner des Regimes. Seine Liebe zur Kultur hielt ihn aufrecht. Er übersetzte Opernlibretti vom Deutschen, das er perfekt beherrschte, ins Tschechische.
Oder Alena Pokorna aus Brünn, die nach dem Öffnen der Grenzen unser Pfarrhaus mit ihrem Lachen erschütterte. Sie war, obwohl Wissenschaftlerin, gezwungen, als Vorarbeiterin in einem Gusseisenwerk zu arbeiten – wegen ihres Glaubens und als Erstunterzeichnerin der Charta 77 gegen die Menschenrechtsverletzungen des kommunistischen Regimes.
Jan Pokorny, ihr Mann, hat mich eingeladen, in Brünn zu predigen wenige Tage, nachdem Alois Mock und Jiri Dienstbier den Stacheldraht an der Grenze durchschnitten hatten. „Gott schenkt Freiheit“, war die Botschaft. Wir sind uns in den Armen gelegen auf der Kanzel. Von EU-Wahlen war damals noch keine Rede, aber Jan und Alena hatten gerade abgestimmt – auf den Straßen von Brünn und Prag – für Freiheit und Demokratie. Das möchte ich ihnen nicht vergessen.