Verhört

 
von Evangelischer Pressedienst

Julia Schnizlein über das, was wir wahrnehmen wollen

Kennen Sie das auch? Da singt man seit frühesten Kindheitstagen ein Lied, verwendet einen Alltagsbegriff, betet ein Gebet und dann erfährt man irgendwann, dass man die ganze Zeit über auf dem Holzweg war. Dass der „Gurkenzieher“ in Wahrheit „Korkenzieher“ heißt, dass Snap nie einen Song über Agathe Bauer geschrieben hat, sondern immer schon „I’ve got the power“ singt, und dass es im „Vater Unser“ doch nicht so einfach zugeht wie gedacht: Nämlich „…wir vergeben unseren Schuldigern“ NICHT „wir vergeben unsere Schulden gern“.

Als meine Tochter neulich drauf gekommen ist, dass Franz von Assisi nicht der „Franz von der Sisi“ ist, war ihr Welt- und Geschichtsbild ziemlich durcheinander. Und mir wurde bewusst, wie weitreichend solche „Verhörer“ sein können. Und ich fragte mich, wie oft wir Erwachsene uns wohl verhören. Weil wir nicht richtig zuhören. Weil wir voreingenommen hinhören und unsere Aufmerksamkeit in eine ganz bestimmte Richtung lenken.

Und ich musste an eine alte Erzählung von Frederik Hetmann denken. Sie handelt von einem Indianer, der in einem Reservat weit von der nächsten Stadt entfernt wohnt und seinen Freund in der Großstadt besucht. Mitten im Großstadtlärm meint der Indianer plötzlich: „Ich höre irgendwo eine Grille zirpen“. Der Freund lacht und erklärt, dass es in der Stadt weder Grillen gebe, noch würde man im Straßenlärm ihr Geräusch hören. Der Indianer lässt sich jedoch nicht beirren, folgt dem Zirpen und findet tatsächlich an einer Hauswand von Efeu bedeckt eine große Grille. „Ihr Indianer habt eben einfach ein viel besseres Gehör“, sagt der Großstädter. „Unsinn“, erwidert sein Freund. „Ich werde dir das Gegenteil beweisen“. Er nimmt eine kleine Münze aus seiner Tasche und wirft sie auf den Boden. Ein leises „Pling“ lässt sich vernehmen. Selbst einige Passanten, die mehr als zehn Meter entfernt stehen, drehen sich augenblicklich um und schauen in die Richtung, aus der sie das Geräusch gehört haben. „Siehst Du mein Freund, es liegt nicht am Gehör. Was wir wahrnehmen können oder nicht, liegt ausschließlich an der Richtung unserer Aufmerksamkeit. Was Du hörst, sagt mehr darüber aus wie Du denkst, als was Dich umgibt.“

Die Geschichte macht deutlich, wie wichtig es ist, dass wir das, was wir hören, hinterfragen. Hören wir nur, was wir hören wollen? Oder hören wir tatsächlich zu. Frei von Vorurteilen und frei von Erwartungen. Im Wissen, dass es viele unterschiedliche Formen des Hörens gibt und genauso viele unterschiedliche Möglichkeiten, sich mitzuteilen. Vielleicht hören wir, wenn wir uns wirklich darauf einlassen, Dinge, mit denen wir nicht gerechnet hätten. Vielleicht hören wir sogar Gott, der sich uns mitteilen will.

Folgen Sie Julia Schnizlein auch auf Instagram: @juliandthechurch

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