Talita kum
Maria Katharina Moser über Kinder, die trotz Traumata ins Leben finden
„Ich werde nie vergessen, wie Manuel zum ersten Mal aufgestanden ist“, sagt Physiotherapeutin Corinna. Manuel wurde in der 24. Woche geboren, 620 Gramm wog er. Prognose: mehrfach schwerstbehindert. Viele Narben im Bauchraum ließen es fraglich erscheinen, ob er sich jemals aufrichten, geschweige denn gehen würde können. Kaum aus dem Krankenhaus entlassen, bekam Manuel Physio- und Ergotherapie bei forKIDS, einem Kindertherapiezentrum der Diakonie. „Vor lauter Schläuchen sah man gar kein Baby“, erinnert sich Ergotherapeutin Cornelia. Sechs Jahre ist das her. Im Herbst wird Manuel eingeschult – ganz „normal“, ohne sonderpädagogischen Förderbedarf. Er sitzt, läuft, lernt.
Als Corinna und Cornelia mir die Geschichte von Manuel erzählen, fühle ich mich erinnert an eine andere Geschichte, in der ein Kind aufsteht. Das Markus-Evangelium berichtet von der Tochter des Jairus, die in den letzten Zügen liegt. Als Jesus im Haus des Jairus ankommt, sind alle aufgelöst. Das Mädchen sei gestorben. Doch Jesus sagt, sie schlafe nur. Er geht zu ihr, nimmt ihre Hand und sagt die bekannten Worte: „Talita kum! Mädchen, ich sage dir, steh auf!“ Und das Mädchen steht auf.
Ein Kind, dessen Leben gehemmt wird, verhindert, klein gehalten, für tot erklärt, bekommt zugesprochen: Talita kum! Richte dich auf! Du hast eine Zukunft! Worte, die dem Lebensmut und der Hoffnung auf die Beine helfen.
Die Geschichten, die die Logopädinnen, Physio-, Ergo- und Psychotherapeutinnen bei forKIDS erzählen, sind Talita kum-Geschichten. Sie beschreiben, wie Kinder, die durch chronische Krankheiten, körperliche und intellektuelle Einschränkungen, Stress, Armut und Traumata belastet sind, ins Leben finden.
Da ist Ramin, der mit seinen fast vier Jahren nicht spricht. Obwohl er alles versteht. Er kommt schwer zu Ruhe, läuft wie aufgezogen herum und kann sich schlecht konzentrieren. Da ist Sonja, die zwanghaft ihre Stofftiere streichelt. Die Zwangsstörung hält sie vom Schlafen ab. Aus Übermüdung und Verzweiflung begann sie, sich selbst zu verletzen. Da ist Emil, der mit Wortfindungsstörungen und Ausspracheschwierigkeiten kämpft. Weil er Probleme hat, seine Bedürfnisse mitzuteilen, reagiert er oft sehr aggressiv. Da sind all die anderen Kinder mit so genannten Entwicklungsstörungen, die nicht mithalten können mit den anderen in Kindergarten und Schule, nicht mitspielen wollen oder ausgeschlossen werden. In den Kindertherapiezentren wird ihnen geholfen, mit sich selbst und mit ihrem Alltag zurecht zu kommen, ihre Fähigkeiten und Gaben wachsen zu lassen, den Weg ins Leben zu finden – aufrecht, selbstsicher und selbstbewusst.