Pflegeeinrichtungen und NGOs orten „veritable Versorgungskrise“
Bis 2030 zusätzlich 100.000 Pflegekräfte benötigt
Wien (epdÖ) – Aufgrund einer „veritablen Versorgungskrise“ im Pflegebereich haben am Freitag, 29. Oktober, in Wien mehrere NGOs und Einrichtungen Alarm geschlagen. Gemeinsam forderten die Vertreterinnen und Vertreter von zwölf Institutionen – darunter Caritas und Diakonie – mehr Tempo und Weichenstellungen von allen politischen Verantwortlichen. Denn gesperrte Betten in Pflegeheimen, Wartelisten in der Hauskrankenpflege, geschlossene Stationen in Spitälern seien bereits Realität. Während der dramatische Personalmangel im Pflegebereich reale Versorgungsprobleme zeitige, lasse die Pflegereform auf sich warten, so der gemeinsame Tenor. Bis 2030 würden etwa 100.000 Pflegekräfte zusätzlich gebraucht, um das System auf dem heutigen Level zu halten. Dabei sei eine Verbesserung noch nicht eingerechnet.
Bei der Pressekonferenz in Wien waren neben Caritas und Diakonie auch das Rote Kreuz vertreten, weiters der Gesundheits- und Krankenpflegeverband, Hilfswerk, Volkshilfe, Dachverband Wiener Sozialeinrichtungen, Lebenswelt Heim, Sozialwirtschaft (Arbeitgeberverband), Arbeiterkammer Wien, Gesundheitsgewerkschaft und Gewerkschaftsbund ARGE Fachgruppenvereinigung für Gesundheits- und Sozialberufe.
Ein runder Tisch ist laut der Allianz für 26. November geplant. Die Organisationen erwarten sich einen strukturierten, zielgerichteten Prozess unter ernsthafter Einbindung der wichtigsten Stakeholder in diesem Bereich. Vorgeschlagen wird ein Pflegegipfel mit den politisch Verantwortlichen aller Ebenen, mit Fachleuten und allen am System Mitwirkenden.
Berufsfeld muss attraktiver werden
Anja Eberharter, Diakonie-Verantwortliche für Alter und Pflege, meinte: „Wir müssen den Weg für Personen, die einen Umstieg in den Pflegeberuf erwägen, erleichtern und unterstützen.“ Dazu gehöre eine gezielte Ausweitung des bereits bestehenden Fachkräftestipendiums und die Schaffung vergleichbarer Möglichkeiten für Interessierte, die nicht aus der Arbeitslosigkeit, sondern aus anderen Berufen kommen und neue Perspektiven in der Pflege und Betreuung suchen.
Wichtig sei, das Berufsfeld möglichst attraktiv zu machen: Auf die Notwendigkeit, die Höher- und Weiterqualifizierung in den Pflege- und Betreuungsberufen zu unterstützen, wies Karin Abram, Leiterin für Soziales und Anwaltschaft der Caritas Österreich, hin: Die Durchlässigkeit müsse fachlich und finanziell gegeben und lebbar sein. „Entwicklungsmöglichkeiten binden Menschen im Beruf und schaffen Perspektiven. Dazu braucht es aber auch die Übernahme der Ausbildungskosten und eine Sicherung des Lebensunterhaltes während der Zeit der Qualifizierung.“ Abram schlug ein analog dem Fachkräftestipendium gestaltetes „Qualifizierungsstipendium“ vor. Es soll berufsbegleitend und hinsichtlich der Höhe angemessen sein, um die Ausbildungskosten und den Lebensunterhalt zu decken. So können Fachkräfte aus unterschiedlichsten Lebenssituationen eine längerfristige berufliche Perspektive im Pflegebereich entwickeln. Zudem bleiben sie dem Pflege- und Betreuungsbereich länger erhalten und Arbeitgeber gewinnen qualifizierte und zufriedene Pflegekräfte, so die Annahme.
„Ungewöhnliche Allianz als Hilferuf“
Michael Opriesnig, Generalsekretär des Österreichischen Roten Kreuzes, führte die Dramatik der Situation vor Augen: „Verstehen Sie diese ungewöhnliche Allianz als Weck-, aber auch als Hilferuf. Es geht um Menschen.“ Eine Erhebung der Bundesarbeitsgemeinschaft Freie Wohlfahrt der großen Trägerorganisationen Caritas, Diakonie, Hilfswerk, Rotes Kreuz und Volkshilfe habe gezeigt, dass bereits jetzt 1.400 Pflegekräfte aller Berufsgruppen fehlen. Anfragen von pflegebedürftigen Menschen und Angehörigen mussten bereits aufgrund des Personalmangels auf Wartelisten gesetzt werden. Das gelte für Pflegeheime gleichermaßen wie für die ambulante Versorgung, insbesondere für die Hauskrankenpflege.
Elisabeth Potzmann, Präsidentin des Österreichischen Gesundheits- und Krankenpflegeverbandes, wies auf die starke Belastung während der Coronakrise hin. Diese habe Beschäftigte verstärkt bewogen, ihr Arbeitszeitausmaß zu reduzieren, einen früheren Pensionsantritt anzustreben oder aus dem Beruf auszusteigen. Zudem sei bis heute etwa ein Viertel der Langzeitpflegekräfte positiv auf Covid getestet worden. Noch nicht abschätzbar seien das Thema Long-Covid unter den Pflegeberufen und seine Auswirkungen.
Schon vor dem Sommer hatte sich ein Zusammenschluss von Institutionen in einem offenen Brief an die Bundesminister Mückstein, Kocher, Fassmann und Blümel, an den Bundeskanzler sowie den Vizekanzler und weitere politisch Verantwortliche in Bund und Ländern gewandt. Die Allianz forderte in diesem Brief einen qualifizierten Prozess und die zügige Umsetzung der längst überfälligen Pflegereform ein.