Maßnahmenvollzug: Expert*innen fordern mehr Prävention, Nachbetreuung, Therapie

 
von Evangelischer Pressedienst

Diskussion im Albert-Schweitzer-Haus-Forum

Wien (epdÖ) – Wie kann eine menschenrechtskonforme Unterbringung und Begleitung von psychisch auffälligen Straftäterinnen und -tätern gelingen? Darüber diskutierten im Albert-Schweitzer-Haus-Forum (ASH-Forum) am Mittwoch, 23. März, Katharina Beclin, Strafrechtsexpertin am Institut für Strafrecht und Kriminologie der Universität Wien, Martin Kitzberger von der Generaldirektion für Straf- und Maßnahmenvollzug des Bundesministeriums für Justiz, und Friedrich Forsthuber, Obmann der Fachgruppe Strafrecht und Präsident des Landesgerichts für Strafsachen Wien. Alle drei eint die Forderung nach Verbesserungen der Präventions- und Nachbetreuungsarbeit, nach mehr Ressourcen für die Therapie im Maßnahmenvollzug sowie nach klaren und transparenten Kriterien für die Unterbringung. Wie Ressourcen eingesetzt werden sollen, und wann und wie lange der Maßnahmenvollzug verhängt werden soll, bewerten die Expertinnen und Experten jedoch unterschiedlich. Ein Entwurf für ein Gesetz zur Anpassung des Maßnahmenvollzugs liegt seit dem 27. Mai 2021 vor, am 24. Februar 2022 schickte Justizministerin Alma Zadić den Entwurf in Begutachtung.

Beclin: „Im Maßnahmenvollzug befinden sich Menschen, die dort nicht hingehören“

Die Strafrechtsexpertin Katharina Beclin kritisierte, dass eine Expertenkommission bereits 2015 grobe Missstände im Maßnahmenvollzug aufgezeigt habe. Ein Gutachten habe gezeigt, dass sich Menschen, bei denen die Gefährlichkeit nicht ausreichend gegeben sei, im Vollzug befänden. Ein Entwurf einer Reform des Gesetzes, wonach der Vollzug erst ab einer Strafdrohung von mindestens drei Jahren bei der Anlasstat verhängt werden könne, sei „in einer Schublade“ gelandet. Bei dem derzeitigen Entwurf bleibe die Möglichkeit offen, diesen bereits bei Strafandrohung von einem Jahr zu verhängen, wenn die entsprechende Gefährlichkeit der Täterin oder des Täters festgestellt werde. Da die Möglichkeit einer endlosen Aufschiebung der Entlassung die Gefahr der Schikane berge, fordert Beclin eine Höchstgrenze für der Dauer des Vollzugs, die das Doppelte der angedrohten Strafe nicht übersteige. Grenzen fordert sie auch für die Auflagen nach einer bedingten Entlassung. Zudem brauche es bessere Ressourcen für Nachbetreuungszentren.

Forsthuber: „Gerichte zerbrechen sich den Kopf“

Friedrich Forsthuber stellte sich gegen die Interpretation, dass Einweisungen in den Maßnahmenvollzug leichtfertig passieren würden. Vielmehr seien diese Resultate langer Abwägungen und intensiven „Kopfzerbrechens“. Die Verdreifachung der Einweisungen seit 2008 geht für ihn auf die vermehrte psychische Belastung in der Gesellschaft zurück. „Jeder zweite Jugendliche leidet an Depressionen, viele Menschen haben latent eine psychische Erkrankung in sich, die erst ausbricht, wenn die Belastung dementsprechend steigt“, erklärt er. Auch Einsparungen im Gesundheitswesen bei präventiven Angeboten und die sogenannte „Drehtürpsychiatrie“, bei der viele kurze Aufenthalte in einer Psychiatrie aufeinander folgen würden, seien schuld an dem Anstieg. Auch bei Flüchtlingen, die vor einigen Jahren vermehrt in Österreich angekommen seien, habe man zu wenig präventiv getan, um Traumata zu behandeln. „Dann wundert es uns, wenn sie in eine Geisteskrankheit hineinschlittern?“, so Forsthuber.

Kitzberger: „Gesellschaft macht Druck, wir sind erreichbar“

„Ordentliche Standards“ und Maßstäbe, an denen die Gefährlichkeit von Menschen gemessen werde, fordert Martin Kitzberger aus dem Justizministerium. Auch für den Aufbau von Gutachten bräuchte es Standardisierungen. Er stellt sich gegen die Annahme des Philosophen Immanuel Kant, man könne die Psyche nicht empirisch messen. „Mittlerweile haben wir diese Empirie, wir müssen diesen Weg nur konsequent gehen. Wir wissen, wie es geht, und was zu tun ist.“ Und er bringt eine „gute Nachricht“: „Unsere Gesellschaft wird nicht gefährlicher, das zeigt unsere Kriminalstatistik“.

Die Evangelische Kirche und der Maßnahmenvollzug

Der evangelische Oberkirchenrat hat mit einer Stellungnahme auf den Gesetzesentwurf zum Maßnahmenvollzug reagiert, in dem er besonders die Aufhebung der Bezeichnung „geistig abnorme Rechtsbrecher“ würdigt. Kritisiert wird darin jedoch, dass „nicht therapiefähige Personen“ im Reformentwurf nicht vorkommen. Diese seien nicht im Maßnahmenvollzug unterzubringen. „Die Volksanwaltschaft hat mehrmals diesen menschenrechtswidrigen Zustand kritisiert. Aus unserer Sicht müssten diese Personen aus dem Justizsystem herausgenommen und dem Sozial- oder Gesundheitsressort zugeführt werden.“ Eine Stellungnahme hat auch Matthias Geist, ehemaliger Gefängnisseelsorger, Gründer der Plattform Strafrechtsethik und heute evangelischer Superintendent in Wien, eingereicht. Er fordert eine angemessene gutachterliche Beurteilung, frühzeitige eingeleitete Vollzugslockerungen sowie einen menschenwürdigen Vollzug der Unterbringung in Einrichtungen der Gesundheits- und Justizverwaltung, vor allem bei Langzeitpatienten nach StGB § 21 (1).

Die Diskussion im Albert Schweitzer Haus moderierte die frühere Gefängnisseelsorgerin Christa Hubka.

Weitere Artikel

Nach Oben