Maria liest
Michael Chalupka über die Bedeutsamkeit, Lesen zu können
Maria liest in jeder Lebenslage. Als Maria, der künftigen Mutter Jesu, vom Engel ihre Schwangerschaft verkündigt wurde, da liest sie. Sogar im Kindbett, im Stall mit Ochs und Esel liest Maria. Und als besonderes Kunststück erscheint ihr Ritt auf dem Rücken des Esels bei der Flucht nach Ägypten mit einem Buch in der Hand. In der mittelalterlichen Malerei ist die lesende Maria ein beliebtes Motiv. Sie liest aus den Psalmen oder aus dem Buch des Propheten Jesaja. Das ist zum einen bemerkenswert, da im Mittelalter die meisten Menschen nicht lesen konnten. Schulbildung für Mädchen gab es nur in den höheren Ständen. Zum andern werden die gewohnten Rollen vertauscht. Joseph ist der, der sich liebevoll um das kleine Jesuskind sorgt.
Maria versinkt ganz in ihrer eigenen Welt. Wer lesen kann, kann eigene Denkräume gestalten. Kann Grundlagen des Glaubens und des Lebens selbst erforschen und selbstbestimmt handeln. In einer Männerwelt wie der des Mittelalters war das eine gefährliche Tätigkeit.
Bedenkt man, dass Lesen heute aus der Mode gekommen ist, die Buchverkäufe zurückgehen, Buchhandlungen schließen und laut einer Studie der OECD 29% der Personen in Österreich an einer Leseschwäche leiden und kurze Texte nicht sinnerfassend lesen können, wünsche ich mir, dass die lesende Maria wieder zum Vorbild wird in den stillen Stunden der Weihnachtstage. Wer weiß, wem das gefährlich werden könnte?