Können Sie es noch erwarten?
Julia Schnizlein über Forderungen, die unfrei machen
„Noch so oft schlafen?“, stellte die Kleine mit ernsthaftem Entsetzen fest, als sie letztes Jahr das erste Türchen ihres Adventkalenders geöffnet und festgestellt hatte, wie viele weitere da noch übrig waren. „Ich kann es doch jetzt schon nicht mehr erwarten!“ Was Kinder dieser Tage oft sagen, wenn sie ihre weihnachtliche Vorfreude ausdrücken wollen, ist für viele von uns Erwachsenen Realität geworden: Wir können es nicht mehr erwarten. Im wahrsten Sinn des Wortes.
Lebkuchen und Schoko-Nikoläuse stapeln sich schon Anfang September in den Supermarktregalen. Die graue Herbstzeit wird mit schrillen Festen wie Halloween oder mit vorgezogenen Weihnachtsmärkten zugepflastert.
Das Warten ist in einer Zeit der immerwährenden Verfügbarkeit einfach nicht mehr auszuhalten. Zum Warten ist man „verdammt“ oder „verurteilt“. Warten wird als vergeudete Zeit wahrgenommen, als Zumutung oder als Fehler im System.
Gerade in der Adventzeit gesellen sich zum Nichtwarten-Können schnell auch die wortverwandten Erwartungen. Viele erwarten sich ein perfektes Fest: Die Familie in Harmonie unter dem schön gewachsenen Christbaum vereint, während draußen die ersten Schneeflocken die Welt in Watte hüllen. Viele erwarten unter dem Baum Anerkennung, als Ausgleich für ihre Mühen. Dankbarkeit, im Gegenzug für ihre Investitionen. Doch oft geschieht das eben nicht. Oder es geschieht anders, als wir es erwarten.
Erwartungen, egal ob sie sich auf die Weihnachtszeit beziehen, darauf, wie sich andere zu verhalten oder wie unser Leben zu verlaufen hat, sind nichts anderes als getarnte Forderungen. Sie machen uns starr und unfrei. Sie verengen unseren Blick und machen uns blind für das Hier und Jetzt.
Erwartungen und Ungeduld machen jenes Erwarten unmöglich, um das es in der Adventzeit eigentlich geht: Im Advent geht es darum, innezuhalten und zur Ruhe zu kommen. Es geht darum hinzuhören – auch in uns hinein – und nachzuspüren. Es geht darum, sich einzulassen und offen zu sein, für den, der da zu uns kommt. Gerade dort, wo wir ihn nicht erwarten. In der Krippe. In der Hektik des Alltags. In der Anspannung der Vorweihnachtszeit. In den enttäuschten Erwartungen.
Ich selbst habe mir heuer übrigens vorgenommen, ein Adventtagebuch zu führen. Es soll keine zusätzliche Belastung sein, sondern eine bewusste kurze Auszeit vom Tippen und Wischen. Einmal am Tag möchte ich meine Gedanken zu Papier bringen. Sammeln, aufschreiben, zeichnen oder skizzieren, wer oder was mir an dem Tag wichtig war. Was mir unverhofftes begegnet ist. Welcher Satz oder welches Bibelwort mich durch den Tag begleitet haben. Und an Heiligabend werde ich es unter den Baum legen.
„Denn keiner wird enttäuscht, der auf DICH wartet“ (nach Psalm 25)
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