Historiker Baumgartner: „Populisten leiden an ihrer Fantasie“
Europa-Diskussion der Evangelischen Akademie Wien Wien
Europa-Diskussion der Evangelischen Akademie Wien
Wien (epdÖ) – „Populisten müssen ein Gefühl der Bedrohung aufrechterhalten. Sie dürfen keine Lösung anbieten, da sie sich sonst selbst die Grundlage ihrer Politik entziehen.“ So lautete die Analyse von Gerhard Baumgartner, wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes (DÖW), bei einer Diskussionsveranstaltung der Evangelischen Akademie am Donnerstag, 21. September. Der Historiker debattierte im Wiener Albert Schweitzer Haus mit Hans Schelkshorn, Vorstand des Instituts für christliche Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien, über den Begriff des Populismus, vor allem in seiner gegenwärtigen Ausprägung im rechten politischen Spektrum.
Massenmedien und politische Teilhabe Voraussetzung für Populismus
Eine paranoide Grundstimmung sei Voraussetzung für das Funktionieren populistischer Bewegungen, sagte Baumgartner, ebenso aber die Möglichkeit, sie massenmedial zu verbreiten. Erst das großflächige Aufkommen von Zeitungen im frühen 19. Jahrhundert habe gemeinsam mit der Möglichkeit politischer Teilhabe zur Bildung populistischer Strömungen beigetragen. In der Gegenwart habe sich die Situation mit sozialen Medien noch einmal verschärft: „Jeder ist heute Sender und Empfänger von Nachrichten – deren Wahrheitsgehalt kann dadurch kaum mehr überprüft werden.“
„Neue Rechte pervertieren Idee des Christentums“
Baumgartners Gesprächspartner, Hans Schelkshorn, zeigte mit der Verquickung von Christentum und neorechter Politik eine weitere Tendenz in der Entwicklung des Populismus auf. „Das ist relativ neu“, so der Philosoph und katholische Theologe. Noch der zentrale Vertreter der nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen neuen Rechten, Alain de Benoist, sei deutlich antichristlich ausgerichtet – das habe sich geändert: „Wenn man zum Beispiel in das Ungarn Viktor Orbáns blickt, sieht man eine besonders enge Verbindung zwischen Christentum und Rechtspopulismus. Ungarn nennt sich nicht mehr Republik, sondern christliche Nation.“
Schelkshorn forderte von den christlichen Kirchen, konfessionsübergreifend gegen diese Entwicklung Stellung zu beziehen: „Die Begründung neorechter Politik mit dem Konzept eines christlichen Abendlandes baut auf einer Perversion des Christentums auf.“ Er verwies auf den Appell des Literaten Albert Camus an die Christen von 1946, ihre spezifische Tradition der Revolte, die Prophetie, zu reaktivieren.
Populismus nicht nur rechtes Phänomen
Der Historiker Baumgartner bemühte sich im weiteren Verlauf um die Klarstellung, dass Populismus nicht mit rechter Politik identifiziert werden dürfe: „Populismus ist vielmehr ein politischer Stil, über den Inhalt ist damit noch nicht viel gesagt.“ Entscheidend seien vor allem eine antiintellektuelle und antiinstitutionelle Grundhaltung. Dem stimmte Schelkshorn zu, zeigte jedoch wieder am Beispiel Ungarns wesentliche Unterschiede zwischen Links- und Rechtspopulismus in Europa auf: „Orbán hat mit Entscheidungen in der Medien- und Verfassungspolitik massiv in die Struktur des Rechtsstaates eingegriffen. Die linke Syriza in Griechenland ist hier nicht so weit gegangen.“ Mit Blick auf das Venezuela Nicolás Maduros fügte Schelkshorn jedoch hinzu, dass dies nur auf Europa zutreffe.
Das vom Journalisten und Historiker Peter Huemer geleitete Gespräch fand im Rahmen der Diskussionsreihe „Europa denken. Religion und Politik im Diskurs“ der Evangelischen Akademie Wien statt. Beim nächsten Termin am 17. November sprechen Ulrike Guérot, Politikwissenschaftlerin, und Othmar Karas, Abgeordneter im Europäischen Parlament, über neue Konzepte für Europa.