Expertinnen sehen Flüchtlingsarbeit von NGOs zunehmend unter Druck

 
von Evangelischer Pressedienst

Rechte Politik gefährde „Solidaritätshoheit“

Wien (epdÖ) – Kirchliche und zivilgesellschaftliche Organisationen werden in Österreich zunehmend aus der Arbeit mit Flüchtlingen gedrängt. Darüber herrschte Einigkeit bei einem virtuellen Vortragsabend am Dienstag, 15. Dezember, am Institut für Politikwissenschaften der Universität Wien. Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser beobachtete dabei, dass die öffentliche Hand Aufträge von NGOs abziehe, die sich kritisch zu asylpolitischen Fragestellungen äußerten, und an andere vergäbe, die keine vergleichbare Advocacy betrieben. Die Soziologin und Religionswissenschaftlerin Katharina Limacher stellte die These auf, dass Organisationen wie Diakonie oder Caritas durch einen zunehmend rechtspopulistischen politischen Diskurs die „Solidaritätshoheit“ in der Gesellschaft verlören, indem Parteien zu definieren versuchten, wem ihre Hilfe zukommen solle und wem nicht.

Moser illustrierte ihre Beobachtung an den Beispielen der Unterstützung unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge und der Rechtsberatung im Asylverfahren. Letztere war ja erst mit Anfang Dezember von NGOs wie der Diakonie abgezogen worden und in den Kompetenzbereich einer dem Innenministerium unterstehenden „Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen“ (BBU) gewandert: „Es ist ein rechtsstaatliches Problem, wenn Rechtsberatung nicht unabhängig ausgestaltet wird“, konstatierte Moser und befürchtet, dass die Beratung künftig nicht mehr im Interesse der Geflüchteten stattfinden werde. Zuletzt seien 42 Prozent aller negativen Asylbescheide in zweiter Instanz wegen Verfahrensfehlern aufgehoben worden – auch dank der unabhängigen Rechtsberatung. Zudem fürchtet sie mangelhafte Finanzierung für die neue Beratungsstelle. Heftige Kritik äußerte Moser an der europäischen Flüchtlingspolitik. Insbesondere die Lage in den griechischen Flüchtlingscamps sei unzumutbar; zudem sei die zunehmende Praxis von Pushbacks, bei der Flüchtlinge, die um Asyl ansuchen wollen, schon an der Grenze oder bereits im Zielland wieder zurückgewiesen werden, widerrechtlich: „Europa muss da sein eigenes Recht ernst nehmen.“

„Wohlfahrtschauvinismus“ nimmt zu

Katharina Limacher, die als Mitglied der Forschungsplattform „Religion and Transformation“ an der Universität Wien forscht, stellte einen Wandel der Rolle von „Faith Based Organizations“ („Glaubensbasierte Organisationen“) wie der Diakonie oder Caritas nach den Flüchtlingsbewegungen von 2015 fest. Zunehmender „Wohlfahrtschauvinismus“ habe in der österreichischen Gesellschaft eine „Neuverteilung von Leistungen auf Grundlage chauvinistischer Argumente eingefordert“. So sollten in rechtspopulistischen und rechtskonservativen Diskursen etwa Nichtstaatsbürger von sozialstaatlichen Leistungen ausgeschlossen werden. Das erschwere die Arbeit von NGOs und bringe ihr Solidaritätskonzept in Bedrängnis, etwa wenn von einer „Asylindustrie“ gesprochen werde. Häufig werde dabei auch die Arbeit der NGOs zum Beispiel für Kinder oder Alte gutgeheißen, der Dienst an Flüchtlingen aber diskreditiert: „Auf der Grundlage ethischer Konzepte werden zwar Formen der Solidarität affirmiert, aber deren Realisierung kann nicht mehr in gleichem Maße geleistet werden“ – auch, weil Ressourcen zunehmend anders verteilt würden.

Der online abgehaltene Vortragsabend war Teil einer Ringvorlesung am Institut für Politikwissenschaften der Universität Wien, die sich im Wintersemester 2020/21 mit dem Verhältnis von Religion und Politik beschäftigt. Es moderierte Sieglinde Rosenberger, Professorin für Politikwissenschaft mit Schwerpunkt auf Migrationsfragen.

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