„Es gibt eine Unerträglichkeit der Gnade“
Gefängnisseelsorger Markus Fellinger im Interview
Pfarrer Markus Fellinger ist seit fast zehn Jahren evangelischer Gefängnisseelsorger. Der Sprecher der ARGE-Gefängnisseelsorge ist in sechs Justizanstalten tätig. Die evangelische Zeitung SAAT hat mit ihm über Gewissensfragen, eine gefängnislose Gesellschaft und unbedingte Gnade für Menschen, die zu Tätern geworden sind, gesprochen. Die SAAT können Sie hier um 30 Euro im Jahr abonnieren.
SAAT: Sie sind evangelischer Gefängnisseelsorger – aber sind Sie deshalb nur für Evangelische zuständig?
Markus Fellinger: Grundsätzlich ist das egal. Jeder, der mit mir reden will, ganz egal vor welchem Hintergrund weltanschaulicher Art, ist willkommen. Die Gesetzgebung hinkt aber hinterher. Mein eigentlicher, offizieller, rechtlich primärer Auftrag ist, dass ich evangelische Gefangene betreue. Von denen gibt es in Österreich aber wohl nur zwischen 100 und 200 von rund 9000 Gefangenen.
Kommt auch das Justizwachepersonal auf Sie zu?
Ganz selten möchte jemand mit mir ganz gezielt über ein Problem sprechen. Je länger man dabei ist, desto mehr steigt das Vertrauen. Dann kommen in möglichst niederschwelligen Situationen, wo kein anderer dabei ist, ganz andere Gespräche auf. Es gibt auch Situationen, wo ich Menschen in einem Todesfall oder bei Beziehungskrisen begleite. Auch Trauungen habe ich schon gemacht.
Sie unterliegen der Schweigepflicht. Kommt es da zu Gewissenskonflikten?
Ja das kommt vor. Vor allem ist der Umgang mit Suizidalität eine der großen Herausforderungen. Da obliegt es meiner Einschätzung, wie ich damit verantwortungsvoll umgehe.
Ist die Suizidrate im Gefängnis hoch?
Sie ist schwankend. Gemessen am Elend, das dort auch empfunden und gelebt wird, halte ich sie nicht für hoch, wenn auch höher als im sonstigen Durchschnitt.
Führen unterschiedliche Religionen zu Konflikten unter den Gefangenen?
Weniger als man erwarten würde. Hier leben Menschen mit unterschiedlichen Weltanschauungen und Religionen auf engstem Raum zusammen. Natürlich gibt es Konflikte. Natürlich gibt es auch radikale religiöse Menschen, nicht nur vom Islam. Es gibt Nazis, es gibt Rechtsradikale. Wenn ein Muslim eine liberale muslimische Ansicht vertritt und lebt oder zum Christentum konvertieren will, dann ist er manchmal schon von fundamentalistisch Gesonnenen gefährdet. Aber das findet sich überall im Radikalismus.
Es gibt immer wieder Diskussionen, ob Haftstrafen gesellschaftlich wirklich einen Nutzen bringen. Wie sehen Sie das?
So wie es momentan läuft, glaube ich nicht, dass sie einen Nutzen haben. Ich bin aber auch kein Fantast, zu glauben, eine gefängnislose Gesellschaft wäre möglich. Aber was in Österreich stark da ist – und so heißt es auch im Gesetz: dass „der Unwert der Tat gespürt werden soll“. Im Religiösen heißt das Buße. Mein evangelischer Ansatz zielt aber nicht auf Büßen oder Leiden ab, sondern auf Versöhnung und Heilung. In Skandinavien ist der ganze Strafvollzug auf Resozialisierung und Heilung ausgelegt. Mein Ideal wäre, zugespitzt, Gefängnisse als „soziale Kuranstalten“ zu sehen. Dass jemand konfrontiert wird mit sich selbst, mit seiner Geschichte, wie es überhaupt dazu gekommen ist, dass er in dieser Situation ist. Die Resozialisierungsangebote zielen derzeit eher darauf ab, dass jemand wieder gesellschaftskonform im Arbeitsprozess ist. Ich möchte einen Schritt weiter gehen. Es geht darum, Versöhnung mit sich selbst, mit Geschädigten, mit der Gesellschaft zu finden.
Wie gehen Sie mit belastenden Situationen um?
Die Geschichten, die man hört, sind nicht immer angenehm. Manches geht nah, aber damit habe ich umzugehen gelernt. Das ist eine Frage der Professionalität. Das weitaus Belastendere ist für mich die unsichere Rolle, die man als Gefängnisseelsorger hat. Es gibt hier keine Gemeinschaft, die mich als Pfarrer stärkt, keine Geschwisterlichkeit. Man ist einem System ausgesetzt, das einem hauptsächlich negativ gesonnen ist. Für viele Beamte bin ich ein rotes Tuch. Ich sehe mich ja auch als Anwalt für menschenrechtliche Fragen, und ich sehe, dass Menschenrechte verletzt werden; das nehme ich nicht gelassen hin.
Hört Ihr Kontakt zu den straffällig Gewordenen nach der Haft auf oder begleiten Sie auch bei der Resozialisierung?
Seelsorge baut Beziehungen auf. Natürlich gehen diese Beziehungen oft nach der Haft weiter. Oder auch neben der Haft: Wir begleiten ja auch Familien. Öffentlichkeitsarbeit ist uns ganz wichtig, da wir überzeugt sind, dass sich in der Gefängnisseelsorge evangelische Theologie in die Praxis zuspitzt. Man kann die Unbedingtheit der Gnade nicht schärfer zum Ausdruck bringen, als wenn sie auch den Tätern gilt. Das ist für viele fast unerträglich. Diese Unerträglichkeit kommt in der Gefängnisseelsorge immer dann zum Ausdruck, wenn Menschen, die Schweres getan und sich vielleicht noch gar nicht distanziert haben, die Gnade zugutekommt. Das ist eine radikale Haltung, die herausfordert. Deshalb halte ich es für eine wichtige Entscheidung der Evangelischen Kirche in Österreich, dass sie der Gefängnisseelsorge auch Aufmerksamkeit entgegenbringt. Das ist ein Bekenntnis zu einer Theologie.