„Das World Wide Web ist groß, die Möglichkeiten scheinen fast unendlich“

Ein Interview mit Medienmanagerin Anna Heidenreich

 
von Martina Schomaker

Privatsphäre im Internet? Soziale Kompetenz und Social Media? Chancen im World Wide Web für Pfarrgemeinden? Ein Interview mit Medienmanagerin Anna Heidenreich. (Eine gekürzte Fassung ist in der September-Ausgabe 2014 der Zeitschrift "Evangelisches Wien" erschienen.)

EVANGELISCHES WIEN : Frau Heidenreich, Sie sind bestimmt viele Stunden am Tag „online“. Könnte man Sie als „Fan“ vom Internet bezeichnen?

ANNA HEIDENREICH : Ich weiß ehrlich gesagt schon gar nicht mehr, wie es vor dem Internetzeitalter war. Insofern kann ich sagen, dass das Internet für mich zu einer Selbstverständlichkeit geworden ist und sich mir die Frage gar nicht stellt. Wenn ich mich aber entscheiden müsste, dann ganz klar: Ja! Ich bin „Fan“ des Internets. Welches andere Medium birgt die gleichen Informations-, Recherche-, Kommunikations- und Unterhaltungsmöglichkeiten? Im Prinzip bin ich mindestens neun Stunden pro Tag online – alleine schon berufsbedingt. Allerdings gehöre ich noch zur Generation, die weitestgehend ohne das Internet groß geworden ist. Es stimmt also nicht ganz, dass ich mich gar nicht mehr an eine internetlose Zeit erinnere. Erst in der 8. Klasse habe ich in einer Projektwoche das „Internet“ kennengelernt. In einer AG mit 20 weiteren Mitschülern standen wir vor einem Rechner, auf dem unser Lehrer uns das „Internet“ gezeigt hat. Damals begriff ich noch gar nicht, was dieses Medium für Möglichkeiten bietet und fand es eher total langweilig.

2) EVANGELISCHES WIEN : Besonders Jugendlichen wird vorgeworfen, dass sie öfter virtuellen statt realen Kontakt zu Freunden haben und darum soziale Kompetenzen verloren gehen.  Wie sehen Sie das?

ANNA HEIDENREICH : Verhaltensänderungen in jüngeren Generationen werden von älteren Generationen stets kritisch beäugt. Die gleiche Generation, die ihre eigenen Kommunikationsformen entwickelt hat, ist jetzt skeptisch, wenn ihre Kinder andere Formen nutzen. (Ich bin mir sicher, dass die heutige junge Generation in einigen Jahren die gleiche Erfahrung machen wird.) Insofern wundert mich der Vorwurf zunächst nicht. Die Frage ist aber natürlich berechtigt, ob dem tatsächlich so ist.

Es gibt diverse Studien, die belegen, dass sich das Kommunikationsverhalten von Kindern, die nach dem Jahrtausendwechsel geboren sind, deutlich von früheren Generationen unterscheidet. Das Handy wird nicht zum Telefonieren genutzt, sondern zum SMS schreiben, Fotos und Videos verschicken. E-Mails werden unwichtiger. Die meiste Zeit verbringen sie im Internet mit dem Kontakt zu Freunden und Bekannten. Für Jugendliche ist es ganz selbstverständlich, ihre sozialen Kontakte übers Internet zu pflegen. Die Vernetzung mit der peer group ist im Laufe der Persönlichkeitsentwicklung und Identitätsfindung besonders wichtig und die Angebote des Internets bieten hierzu vielfältige Möglichkeiten. Die Plattformen, die für diesen Austausch unter Gleichaltrigen genutzt werden, ändern sich von Zeit zu Zeit – der Zweck und die dahinter stehenden Bedürfnisse bleiben aber gleich.

Nun stellt sich aber die Frage nach der Qualität der Kontakte und der sozialen Kompetenzen, die entwickelt werden – oder eben nicht. Hierzu gibt es unterschiedliche Meinungen. Ob gute Gespräche nur von Angesicht zu Angesicht möglich seien, fragte Allensbach in einer Studie. 89 Prozent der Senioren bejahten diese Frage. Junge Internetnutzer sagten hingegen mehrheitlich: „Nein“. Ihrer Meinung nach lässt es sich über das Netz genauso gut austauschen. Andere bestätigen, dass es keine Belege dafür gäbe, dass die Nutzung digitaler Medien zur sozialen Vereinsamung führt oder die selbstberichtete Einsamkeit erhöht.

Psychologen hingegen sind der Meinung, dass es für einen vorwiegend virtuell kommunizierenden Jugendlichen schwieriger sei, die Emotionen eines realen Gegenübers wahrzunehmen und zu deuten. Andere bestätigen, dass soziale Kompetenz im Bereich der Kommunikation erlernt werden muss, um im Privat- und Berufsleben sozial adäquat miteinander umgehen zu können. Dies kann man nur, wenn man mit Menschen redet – direkt von Gesicht zu Gesicht.

Ich denke, dass – wie bei so vielen Dingen im Leben – ein geordnetes Maß notwendig ist, und dass die Erziehungsberechtigten gefragt sind, ihre Sprösslinge zu Medienkompetenz zu erziehen. Digitale Medien gehören zu unserer Lebenswelt und lassen sich nicht verbannen. Notwendig ist es daher zu lernen, adäquat mit diesen Medien umzugehen, das heißt, die Fähigkeit zu entwickeln, Medien und ihre Inhalte den eigenen Zielen und Bedürfnissen entsprechend zu nutzen. Wer das lernt, der braucht sich keine Sorgen machen, dass soziale Kompetenz verloren geht. Wunderbarerweise gibt es hierzu mittlerweile ein vielfältiges Informations- und Unterstützungsangebot. Zum Beispiel gibt es den Verein Smiley (www.smiley-ev.de), der sich der Förderung von Medienkompetenz verschrieben hat und diverse Angebote für Eltern, Lehrer, Kinder und Jugendliche bereithält.

3) EVANGELISCHES WIEN : Durch das Internet wird auch die Arbeitswelt der Erwachsenen schnelllebiger. Manch einer stöhnt über die tägliche E-Mail-Flut. Wie viele E-Mails bekommen Sie und kennen Sie eine Strategie gegen den E-Mail-Stress?

ANNA HEIDENREICH : Ich glaube, die E-Mail-Flut hält sich bei mir noch in Grenzen. Dennoch kann man schon bei vergleichsweise wenigen Emails, die man am Tag erhält, in Stress geraten. Vor allem, wenn bei jedem E-Mail-Eingang ein kleines Fenster auf dem Bildschirm auftaucht, das die E-Mail ankündigt. In einer sehr stressigen Projektphase habe  ich die Einstellung in meinem Outlook geändert und die Funktion des „Pop-Up-Fensters“ ausgeschaltet – und dabei ist es bis heute geblieben. Ich checke trotzdem noch oft genug meine Mails, aber das tue ich jetzt nur noch bewusst und dann wenn es mir gerade passt. Und ich bin nicht mehr so schnell von meiner Arbeit abgelenkt, sondern nur wenn ich die Ablenkung suche.

4) EVANGELISCHES WIEN : Mangelnder Datenschutz ist immer eng verbunden mit dem Thema Internet, besonders mit Angeboten wie facebook oder whatsapp. Wie sollte man seine Privatsphäre schützen? Ist das überhaupt noch möglich?

ANNA HEIDENREICH : Heutzutage muss wohl jeder Nutzer davon ausgehen, dass seine Daten mitgelesen werden können. Selbst bei einem sehr rigiden Umgang mit den eigenen Daten muss man damit rechnen, dass es Programme gibt oder solche entwickelt werden können, die ein Ausspähen ermöglichen (könnten). Deshalb aber jeglichen Umgang mit dem Internet oder jegliches Anmelden bei Online-Dienstleistern zu verweigern, kommt für mich persönlich nicht infrage. Zu stark überwiegen für mich die Vorteile, die ich durch das Nutzen von Internetdienstleistungen erhalte. Wenn man diese Vorteile nutzen möchte, gibt es aber die Möglichkeit, einen bewussten Umgang mit den eigenen Daten zu pflegen und gewisse Vorsichtsmaßnahmen zu treffen: Nur so viele Daten angeben, wie absolut notwendig sind, bei der Passwortvergabe stets ein neues Passwort verwenden, Passwörter mit unterschiedlichen Zeichen und Sonderzeichen verwenden, eine Länge von 16 Zeichen wählen. Zudem kann man versuchen eher deutsche Anbieter zu wählen, die ihren Serverstandort in Deutschland haben (zum Beispiel Posteo statt googlemail).

5) EVANGELISCHES WIEN : Von Shitstorms und Mobbing im Internet hört man immer wieder. Wie sollten Betroffene reagieren?

ANNA HEIDENREICH : Mobbing ist leider kein Nischenphänomen. Ich vermute, fast jeder kennt das Thema noch aus der eigenen Schulzeit und vielleicht sogar aus dem Berufsleben. Im „echten Leben“ haben solche Beleidigungen zum Glück eher eine kurze Halbwertzeit und es hören vielleicht zwei, drei Leute mit. Im Internet wirkt sowas oftmals langfristiger und erreicht mehr.

Am besten agiert man präventiv, indem man sich „richtig“ verhält. Das heißt zum Beispiel, als Privatperson nicht alles auf dem eigenen Profil zu verraten, seine Privatsphäre zu schützen,  blöde Kommentare zu löschen und nicht alles zu glauben. Dennoch kann das Verhalten vor Mobbing nicht vollkommen schützen. Letztendlich ist es deshalb wichtig, Kindern und Jugendlichen Mut zu machen, Mobbing-Fälle bei Eltern, Lehrern oder anderen Vertrauenspersonen zu melden und die Mobbing-Beiträge als Beweis zu sichern (z. B. mittels eines Screenshots). Auch online finden Betroffene Hilfestellung, z. B. bei www.save-me-online.de , www.klicksafe.de , www.seitenstark.de , www.mobbing-schluss-damit.de

Wenn wir Unternehmen und geistliche Akteure in Sachen Social Media beraten, gehört auch immer das Thema „Umgang mit Krisen“, also Umgang mit sogenannten Shitstorms, dazu. Unser Plädoyer ist stets: 100%ig vermeiden lassen sich Shitstorms nie. Der Umgang mit ihnen lässt sich aber vorab planen, sodass Betroffene im Krisenfall die Chance haben, im Fall der Fälle Ruhe zu bewahren und sich anhand von definierten Prozessen zu orientieren und sich zu verhalten. Und natürlich gibt es in diesen Fällen für öffentliche Akteure gewisse Do’s und Don’ts. Zum Beispiel gehört transparente und schnelle Kommunikation dazu (ein „Do“), das heißt, dass keine Beiträge gelöscht werden sollten (ein „Don’t“). Nutzer fassen intransparente Kommunikation schnell als Verschleiern auf, womit eher Öl ins Feuer gegossen wird. Und auch vorab lässt sich präventiv handeln. Eine sogenannte „Netiquette“, eine Leitlinie für das Verhalten von Nutzern auf den eigenen Plattformen, macht deutlich, welche Art der Kommunikation wünschenswert ist und welche Art nicht toleriert wird.

6) EVANGELISCHES WIEN : Das Internet bietet viele neue Möglichkeiten. Ihr Fachgebiet ist die Kirche und ihr Umgang mit dem Internet. Welche Chancen bieten sich Pfarrgemeinden im World Wide Web?

ANNA HEIDENREICH : Das WWW ist groß, die Möglichkeiten scheinen fast unendlich. Für Pfarrgemeinden – wie für alle anderen geistlichen und säkularen Akteure auch – gibt es diverse Chancen, die genutzt werden können: informieren, sich präsentieren, auffindbar sein, für Kommunikation zur Verfügung stehen und diese selbst initiieren, virtuelle Netzwerke spinnen, Personen erreichen, die nicht mehr in den Gottesdienst gehen, sich aber mit Religion und Kirche auseinandersetzen wollen, kirchliche und religiöse Themen spielen. Alles lässt sich heutzutage Dank immer anwenderfreundlicherer Dienstleister relativ leicht erreichen (auch ohne Programmierkenntnisse). Wer zudem kreativ ist, ein ausgeprägteres technisches Verständnis hat, sich mit dem „WWW“ gut auskennt und vor allem Zeit hat, sich um die aufgesetzten Dienste zu kümmern, dem eröffnen sich noch viel mehr Chancen, indem professionelle technische Dienste genutzt werden können und kreativer gearbeitet werden kann. An dieser Stelle zeigen sich für Pfarrgemeinden aber oft die Grenzen. Pfarrgemeinden sind überwiegend auf ehrenamtliches Engagement ihrer Mitglieder angewiesen. Für dieses spezielle Know-How und diese speziellen Fähigkeiten im Bereich des Internets bedarf es aber oft professioneller Unterstützung, die kostspielig und ehrenamtlich nur im Glücksfall nutzbar ist. Wünschenswert wäre es natürlich, das Internet professionell nutzen zu können. Wir haben aber in unseren Beratungsmandaten für kirchliche Akteure immer wieder festgestellt, dass professionelles Handwerk von kirchlichen Akteuren nicht zwingend gefordert ist und erwartet wird. Nutzer haben ein Verständnis dafür, dass kirchlichen Akteuren nicht dieselben Mittel zur Verfügung stehen wie etwa wirtschaftlichen Akteuren. Zudem ist Authentizität wichtig. Pfarrgemeinden sollten nur die Ausgestaltungsmöglichkeiten im Internet nutzen, die sie selbst im Alltag pflegen können. Es ist zum Beispiel sinnvoller eine einfache Webseite mit wenig Funktionalität und einer einfachen Struktur zu haben, als eine Webseite mit vielen inhaltlichen Rubriken und diversen technischen Raffinessen. Wenn die einfache Webseite mit wenigen Informationen aktuell ist und mir Kontaktmöglichkeiten geboten werden (E-Mail-Adresse, Ansprechpartner, Telefonnummer, ggf. Adresse), die funktionieren und jemand darüber zuverlässig auf meine Anfragen reagiert, ist das viel wertvoller als eine schicke Webseite, die inhaltlich veraltet ist und die Kontaktmöglichkeiten ins Leere führen.

Zudem dürfen die Chancen des „WWW“ nicht überschätzt werden. Es gibt Grenzen, die besser akzeptiert werden als sich daran die Zähne auszubeißen. Das WWW ist kein Heilmittel für schwindende Mitgliederzahlen, schwindenden Kontakt zur Pfarrgemeinde oder Besucherflaute in Gottesdiensten.

7) EVANGELISCHES WIEN : Eine eigene Homepage, facebook, twitter, google+, pinterest … Was sollte eine Pfarrgemeinde haben?

ANNA HEIDENREICH : Aus meiner Sicht sollte eine Pfarrgemeinde zumindest eine „digitale Visitenkarte“ im Internet haben. Das heißt, eine Homepage, die darüber informiert, wie die Pfarrgemeinde kontaktiert werden kann und wer Ansprechpartner ist. Alles Weitere ist ein „Add-On“ (sozusagen ein Erweiterungspaket). Ein Add-On kann sein, dass ich meine Homepage mit aktuellen Informationen über die Pfarrgemeinde bestücke. Auch die Nutzung von Social Media ist aus meiner Sicht ein Add-On. Sie müssen nicht genutzt werden, die Nutzung kann aber bereichernd sein. Die Antwort auf die Frage, ob die „Add-Ons“ notwendig sind, kann die Pfarrgemeinde nur selbst beantworten. Entscheidend sind dabei auch immer die vorhandenen Kapazitäten. Gibt es jemanden, der sich darum kümmern kann, die Add-Ons aufzusetzen und zu pflegen? Bestenfalls kennt sich die Person in dem Bereich gut aus oder hat eine hohe Motivation sich einzuarbeiten. Auch „learning by doing“ kann ein gangbarer Weg sein.

8) EVANGELISCHES WIEN: Wenig Geld, aber Zeit kostet die Präsenz im Internet. Wie viel Zeit pro Woche sollten Pfarrgemeinden in den Web-Auftritt oder die Web-Auftritte investieren?

 
ANNA HEIDENREICH : Abhängig davon, welche Online-Dienste im Internet genutzt werden, können diese wenig bis viel Geld kosten. Aber es stimmt natürlich: Mittlerweile stehen viele kostenlose bis kostengünstige Dienste zur Verfügung. Wie viel Zeit von Pfarrgemeinden investiert werden sollte, hängt in großem Maße davon ab, welche Ziele sie sich mit der Nutzung der Online-Dienste gesetzt hat und wie aktiv diejenigen sind, die diese Dienste auf der anderen Seite nutzen. Ich mach’s mal an einem Beispiel konkreter: Wer eine Homepage hat, diese ein Mal im Monat mit aktuellen Informationen bestückt und gleichzeitig eine Facebook-Seite hat und diese drei bis vier Mal in der Woche mit aktuellen Informationen (Posts) füttert, der wird in etwa zwei Stunden pro Woche einplanen müssen. Diese Zeit wird überwiegend dafür anfallen, Themen und Informationen zu finden und Kanal adäquat aufzubereiten. Wichtig ist, dass die zuständige Person unabhängig und selbständig arbeiten kann und kaum Zeit in Anspruch nehmen muss, um sich mit jemanden abzustimmen. Die Informationen auf den Plattformen selbst einzustellen, wird wenig Zeit in Anspruch nehmen. Schön ist es, wenn die Verantwortung dafür, Inhalte für die Kanäle zu finden, auf mehrere Schultern verteilt werden kann. Wenn die Nutzer der Kanäle sehr aktiv sind und viel Rückmeldung kommt, muss natürlich zusätzlich Zeit in die Reaktion auf die Beiträge investiert werden.

Interviewpartnerin:   Anna Heidenreich (Medienmanagement B.A., 32 Jahre) ist Projektleiterin bei aserto in Hannover. Das Beratungsunternehmen arbeitet für verschiedene evangelische Gemeinden und Landeskirchen in Deutschland sowie für die EKD, die Evangelische Kirche Deutschland. In diesem Rahmen hat Frau Heidenreich das Blog „Kirche und Social Media“ mit ihrem Kollegen Marcel Drews mitbegründet.

Blog „Kirche und Social Media“

Was gibt es Neues im Bereich Social Media und wie gehen die Kirchen mit den neuen Medien um? Ist es für sie sinnvoll, sich in Social Media zu engagieren und wenn ja, worauf sollte man dabei achten? Diesen Fragen widmet sich das Blog „Kirche und Social Media“ von Anna Heidenreich und Marcel Drews von aserto unter www . socialmedia.wir-e.de .

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