Seminarreihe Ethik und Ethos in der Klinischen Krankenhausseelsorge und in der Universitätsmedizin - Mit-Menschlichkeit in Technologie und Digitalisierung II
2. Einheit: Do., 24. Oktober 2019, 16:00–18:00 Uhr
Der alte und gebrechliche Mensch: Nutzung von Technologie und Digitalisierung im Sinne der Lebensstützung und Menschenwürde
Referentin: Tanja Stamm, Institut für Outcomes Research, Zentrum für Medizinische Statistik, Informatik und Intelligente Systeme
Abstract:
Digitale Innovationen sind aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken und bestimmen den Alltag der meisten Menschen. Von assistiven Technologien wird erwartet, dass sie die Selbstständigkeit älterer Menschen erhöhen und ihnen ermöglichen, länger im häuslichen Umfeld zu verbleiben. Zukünftig sollen technologische Innovationen kosteneffektiv zu einer nachhaltigen medizinischen und pflegerischen Versorgung beitragen. Trotzdem sind ältere Menschen derzeit nicht ausreichend mit diesen Technologien versorgt. Die Gründe dafür sind vielfältig und reichen von ungünstigen Technologieentwicklungen ohne die Bedürfnisse älterer Menschen berücksichtigt zu haben bis zu ethischen Fragestellungen, wie Nutzung von und Zugriff auf personenbezogene Daten, Angst vor Überwachung durch Datenmessung und Missbrauch, sowie ungeklärten Fragen der Finanzierbarkeit der Technologien. Die Nutzung der Technologien durch ältere Menschen mit chronischen Erkrankungen und/oder kognitiven Einschränkungen erfordert eine wechselseitige Einbeziehung von Perspektiven der primären BenutzerInnen, des sozialen Umfelds, der EntwicklerInnen, der Policy Maker und der rechtlichen und ethischen ExpertInnen. Aus diesen Gründen ist es essentiell, dass wir als Gesellschaft ethische und spirituelle Überlegungen zu diesen offenen Fragen anstellen, diese interdisziplinär diskutieren und die Zielsetzungen für assistive technologische Innovationen mitbestimmen.
Buddhistischer Input
Gerhard Weißgrab
Präsident der Österreichischen Buddhistischen Religionsgemeinschaft
Die großen technischen Fortschritte unserer Zeit nähren die Idee grenzenloser Möglichkeiten. In der Realität leben wir aber in einer begrenzten Welt. Daher stehen wir ständig vor neuen Entscheidungen, wie dieser wachsende Fortschritt heilsam eingesetzt werden kann. Ziel dieser Entscheidungen muss aus ethischer Sicht immer das Wohl des einzelnen betroffenen Menschen sein. Hier kann es leicht zu einem Konflikt mit den heute gängigen Zielvorgaben für Wirtschaftlichkeit und Profitabilität kommen. Gerade beim alten und gebrechlichen Menschen droht da leicht ein Interessenkonflikt – welcher technische oder digitale Einsatz rechnet sich? Und es ist immer die Kernfrage zu stellen: Welcher Einsatz stärkt oder schwächt Lebensqualität und Menschenwürde? Empathie, Mitgefühl und Wissen sowie Weisheit zählen hier sicher zu den wichtigsten Werkzeugen der Entscheidungsfindung.
Christlicher Input
Dr. Matthias Geist
Superintendent der Evangelischen Kirche A.B. Wien
Technik als Ersatz einer Sozialstruktur
Je stärker die Technologie zur pflegerischen Begleitung von Menschen im Alter eingesetzt wird, desto wichtiger sind drei Dimensionen ethischen Handelns zu betrachten: Was Technik ermöglicht, ist Betroffenen nicht immer zugänglich und verständlich. Was Digitalisierung letztlich auslöst, führt zu einer Auslagerung einer sozialen „Sorge“-Struktur. Wo immer (ökonomischer) Nutzen zu holen ist, droht vermeintliche Selbst- in strukturelle Fremdbestimmung zu kippen. Ein Gefüge, das sich in sozialer Sorge und Schutz des Individuums übt, entspricht dem ethisch-religiösen Bild der „Unverfügbarkeit“ des Lebens. Im anderen Fall der technischen Sorge bedient sich „Gott Mensch“ letztlich des „Gottes“ digitaler Datenerfassung. So sollte sich jede Technologie in all ihrem großartigen Nutzen für Betroffene auch der veränderten Bedeutung für bedürftige Menschen und ihre Angehörigen bewusst sein.
Klinische Krankenhausseelsorge:
Islamische Perspektive
Dr. Abdurrahman Reidegeld
Dozent am Institut Islamische Relgion an der KPH Wien/Krems
Erkan Erdemir, MA
Leiter der Islamischen Spitalseelsorge in Österreich
Die Technik und Technologie begleitet uns seit Jahrzehnten in allen medizinisch ausgerichteten und Pflegerberufen. Manche technologischen Möglichkeiten stellen die Ärzte, Betreuer und Pflegepersonal vor neuartige Herausforderungen, die nicht mehr rein technischer Natur sind, sondern nur im ethisch-religiösen Kontext angegangen werden können.
Dazu hat jede Weltanschauung bzw. Religion eigene Systeme entwickelt; im islamischen Bereich sind dies die sogenannten „Zielsetzungen der islamischen Lebensweise“.
Betrachten wir diese hinsichtlich des menschlichen Lebens, so geben sie unter anderem als unveräußerliche Aspekte vor:
- Der Schutz des eigentlichen Lebens: Der Schutz des Lebens umfasst neben einer operativen Lebenserhaltung auch das Recht auf angemessene Versorgung, die ja für die Aufrechterhaltung des Lebens unabdingbar ist. Diese Versorgung umfasst aber nicht nur körperliche, sondern auch seelische und spirituelle Betreuung, da der Mensch in seiner Schöpfungsart aus Körper, Seele und geistiger Kraft besteht.
- Der Schutz der menschlichen Würde: dadurch werden alle Aspekte betroffen, die - gemäß allgemeiner, aber auch gemäß kulturell-traditioneller Sicht die Würde des Menschen ausmachen.
Von daher bedarf es einer eingehenden Untersuchung, um Chancen und Risiken der Lebensstützung und Digitalisierung im ethischen Licht und gemäß der religiösen Normen abzuwägen.
Christliche Perspektive
Katharina Schoene M.Ed. M.A.
Diakonin der Evangelischen Kirche A.B.
Klinische Krankenhaus- und Geriatrieseelsorgerin
Psychotherapeutin in Ausbildung
Gesamtes Statement:
Vergänglichkeit gehört zu unserem Leben dazu. Wenn wir vergänglich sind, gehören Verluste dazu. Verluste von Menschen, Verluste von Fähigkeiten. Wir haben aber gelernt, dass all unsere Verluste kompensierbar sind.
Viele technische Hilfsmittel helfen uns, unsere Verluste auszugleichen. Welch ein Segen! Was wären wir ohne Hörgeräte oder Notrufuhren, Treppenlifter und Wannenlifte? Wir wären einsamer, zurück gezogener.
Neue Technologien sollen immer dazu dienen, Kontakt zueinander herzustellen, Teilhabe und Inklusion zu ermöglichen. Alles wirkliche Leben ist Begegnung, sagt Martin Buber.
Ich erlebe in meiner täglichen Arbeit mit Menschen im Alter, dass Berührung und Begegnung auf Augenhöhe unersetzbar sind. Sich Zeit nehmen, einander sehen, so wie Gott uns gemeint hat. Das braucht Geduld und Zeit und menschliche Begegnung. Jeder Mensch hat das Bedürfnis, gesehen und erkannt zu werden. In dem, was er ist – in seiner Würde.
Dazu braucht es einen vertrauensvollen Umgang miteinander. Sehen können nur Augen, spüren nur Hände, fühlen nur das Herz. Viele Menschen, die ich derzeit begleite, sind sehr alt. Und sie alt geworden in einer Generation ohne große technische Hilfen, ohne Computer und andere Hilfsmittel. Die höhere Lebenserwartung können wir daher nicht immer nur dem technisch-medizinischen Fortschritt zuschreiben. Vielleicht sind auch die Werte, die wir von unseren Eltern und der Gesellschaft mit- und vorgelebt bekommen haben, maßgeblich daran beteiligt.In der Seelsorge geht es immer darum, Menschen durch die Brüche und Verluste ihres Lebens zu begleiten. Es geht darum, nach einem erfüllten Leben zu suchen, in dem nicht mehr alles heil ist.
Gemeinsam Wege zu finden, wie wir Lücken und Verluste aushalten lernen. Die menschliche Begegnung, das Berührtsein, im übertragenen oder wirklichen Sinn, ist nicht ersetzbar. Am Ende unseres Lebens zählen Zugehörigkeit, Zuwendung, eine warme Hand, ein Lächeln, ein Da-Sein.
Vor zwei Jahren gab es in Deutschland den Segensroboter, der seine Roboterhände durch einen Knopfdruck zu schönen menschenähnlichen Händen werden ließ und Menschen segnete, im Anschluss daran druckten sich die Leute wie an der Kassa einen Bon aus und erhielten einen Segensspruch. Wie finden Sie das? Befremdlich? Ich kann nur erzählen, dass in meinen Gottesdiensten und Feiern das Segnen das zentralste Element ist. Jeder erhält ihn, jeder wird dabei angeschaut und gesehen. Die Hände liegen auf dem Kopf und auf der Schulter. Sie sagen: „Du bist nicht allein!“, „ Du bist auch trotz deiner Verluste und Veränderungen geliebt.“ +
Eine segnende Haltung ist eine zutiefst wertschätzende Haltung: ich höre dir zu, ich schenke dir Zeit, ich nehme dich ernst, ich erlebe dich als einmalig, ich habe dich gern…Das kann einem nur ein Mensch sagen. Einer, mit einer warmen Hand, mit einem liebevollen Blick. Einer, der sie nicht nur funktionell angreift, sondern der sich ihnen schenkt – voll und ganz. Natürlich ist das intensiv, natürlich braucht das Zeit, natürlich sind wir dabei gefordert. Und wir werden ebenso beschenkt.
Wir alle sind Seelsorger. Seelsorge geht mit, hört zu, fängt auf. Sie findet von Mensch zu Mensch statt. Ich stelle mich in meiner eigenen Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit zur Verfügung. Es entsteht etwas zwischen uns, dass kein technisches Hilfsmittel ersetzen kann. Und ich habe gestern eine Beobachtung gemacht.
Das wirkliche Wesentliche braucht keine Maschinen und Geräte. Berührungen sind eines der wichtigsten Ankerpunkte für unsere Seele. Selbst bei sterbenden Menschen beobachtete man noch eine vermehrte Ausschüttung von Oxytocin. Es geht gerade in meiner Arbeit mit alten Menschen immer darum, die Herzen zu berühren. Oft gelingt das nur einen kurzen Moment. Alte Menschen werden langsamer, sie gehen in die Innenschau und sind gestresst von technischen Hilfsmitteln, die sie beschleunigen wollen.
Technische Hilfsmittel dürfen unterstützen, aber nicht Menschen ersetzen. Angelehnt an Kants kategorischen Imperativ darf der Mensch dabei nie Mittel zum Zweck werden, sondern muss immer der Zweck selbst sein. Das bedeutet, dass die Bedürfnisse und der Wille der Menschen immer im Zentrum stehen müssen und nicht einem vermeintlichen oder echten technischen Fortschritt untertan sein dürfen.Vor Gott sind wir alle gleich – wir haben alle das gleiche Bedürfnis nach Zuwendung. Wir sind alle bedürftig, fragmentarisch, zerbrechlich – und wenn wir es jetzt noch nicht sind, werden wir es irgendwann sein.
Ich glaube, das größte Geschenk, das ich von jemandem bekommen kann, ist, dass er mich sieht, mir zuhört, mich versteht und mich berührt. Das größte Geschenk, das ich einem anderen Menschen machen kann, ist, ihn zu sehen, ihm zuzuhören, ihn zu verstehen und ihn zu berühren. Wenn das gelingt, habe ich das Gefühl, dass wir uns wirklich begegnet sind. (Virginia Satir)
Jüdische Perspektive
Willy Weisz Jüdische Patientenbetreuung am AKH Wien
Da nach jüdischer Ethik Leben und Gesundheit unter allen Umständen zu fördern sind, sind auch die Methoden und Techniken der Informationstechnologie in den Dienst der medizinischen und Biowissenschaften zu stellen. Dabei darf es keine Tabus geben.
Essentiell ist dabei, dass von medizinischer Seite die Informatik, ihre Vorzüge und Begrenzungen richtig verstanden werden. Computer – soweit hardwareseitig fehlerfrei und richtig programmiert – sind unbestechlich im Abarbeiten aller vorhandenen Daten. Dabei wird nichts übersehen oder ausgelassen; Fehlleistungen, wie sie durch menschliche Unachtsamkeit entstehen, gibt es nicht. Es gibt allerdings auch kein Querdenken, das unerwartete Resultate aufzeigen kann – die dann natürlich systematisch verifiziert werden müssen – als Beispiel sei die Interpretation der Lichtmessungen gemäß der speziellen Relativitätstheorie durch Albert Einstein.
Aus der Fähigkeit des Menschen, Zusammenhänge zu überblicken, ohne jede Einzelheit explizit zu erfassen, ergibt sich, dass die Informationstechnologie zwar zur immer wichtigeren Entscheidungshilfe wird, dass deren Ergebnisse aber nicht das letzte Wort haben dürfen; dieses muss immer noch dem Einsatz menschlichen Wissens und Ermessens vorbehalten bleiben!
Auf der anderen Seite wird immer angeführt, dass ältere Menschen beim Einsatz von Informationstechnologie überfordert sind. Dies hängt mehr vom Einzelnen ab, als von der Technologie selbst. Wer jemals verfolgt hat, wie Kinder mit ihrem Zugang des „trial and error“ das Interesse für Computerprogramme oder der Verwendung von Smartphones bei Erwachsenen, die ihre Groß- oder Urgroßeltern sind oder sein könnten, wecken können, versteht, dass es dieser Zugang ist und nicht das „Lernen vor der Anwendung“, der älteren Menschen hilft, sich nicht überfordert zu fühlen. Ein solches von Menschen begleitete Lernen wird immer mehr zur zusätzlichen Aufgabe bei der Betreuung von alten und gebrechlichen Menschen, damit sie sich in der „modernen“ Welt zurechtfinden.
Die Gefahr der Verletzung der Privatsphäre von alten und gebrechlichen Menschen wird immer angeführt, wenn die erhobenen Informationen angefordert werden. Dabei werden die existierenden Vorschriften meist recht extensiv ausgelegt, um sich ja keine rechtlichen Probleme einzuhandeln oder auch um Transparenz zum Eigenschutz zu vermeiden. Eine bessere Abwägung von Nutzen und Schaden des Informationsaustausches und eine Absicherung der datenschutztechnisch bestens ausgebildeten und nach bestem Wissen und Gewissen handelnden Personen müssen in Zukunft einen sinnvolleren Einsatz der vorhandenen Daten sicherstellen und sie zu Informationen machen, die den zu behandelnden oder zu betreuenden Menschen zu seinem Wohle in den Fokus stellen.
Wenn Sie jetzt fragen „Wo bleibt dabei der jüdische Input?“: Alle oben genannten Forderungen lassen sich aus spezifischen Anforderungen jüdischer Ethik ebenso ableiten, wie sie allgemein ethisch begründbar sind.
3. Einheit: Do., 28. November 2019, 16:00–18:00 Uhr
Digital Natives – Einfluss von Technologie und Digitalisierung auf das sich entwickelnde KindReferent: Christoph Aufricht, Universitätsklinik für Kinder- und Jugendheilkunde
4. Einheit: Do., 23. Jänner 2020, 16:00–18:00 Uhr
Kommunikation in Gesundheitssystemen: Aus-wirkungen von Technologie und Digitalisierung auf das ÄrztInnen-PatientInnenverhältnisReferentin: Eva Schaden, Universitätsklinik für Anästhesie, Intensivmedizin und Schmerztherapie
Veranstaltungsort IMMER: Hörsaal 5 im Hörsaalzentrum der MedUni Wien im AKH WienEine gemeinsame Veranstaltungsreihe der Univer-sitätsmedizin Wien und der Klinischen Seelsorge im AKH Wien.
Weiterführende Infos folgen zeitgerecht vor den jeweiligen Seminareinheiten per Veranstaltungskalender der MedUni Wien bzw. der Website des Doktoratsstudiums Clini-cal Neurosciences (www.meduniwien.ac.at/clins) und Events MedUNI Wien