Im Gespräch – „Wie spät ist es?“
Ingrid Tschank über den Umgang mit der Zeit
Turmuhren waren die ersten mechanischen Uhren überhaupt und fanden gegen Ende des Mittelalters weite Verbreitung. Uhren waren zu dieser Zeit sehr teuer, so dass eine Turmuhr für alle Bewohner eines Ortes einen Nutzen brachte. Die Menschen wollten genau wissen, wie spät es ist. Bis dahin hatten sie sich mit Sonnenuhren, mit Wasseruhren und mit Sanduhren zufrieden gegeben. Jetzt wurden sie neugierig, was die Stunde geschlagen hat. So verbreitete sich die mechanische Uhr in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in allen großen Städten Europas. Die Uhr hat das Leben des Menschen verändert. Er lernt, die Zeit genau einzuteilen, vorauszuberechnen und zu planen. Doch dadurch entsteht der Eindruck, als würden nicht mehr Zeit zur Verfügung stehen, sondern eher weniger.
Kinder haben ein völlig anderes Zeitgefühl als Erwachsene. Sie können sich in Zeitlupe anziehen, auf dem Weg zum Kindergarten seelenruhig jeden Stein am Weg umdrehen und die Hausaufgaben im Schneckentempo erledigen. Der Tagesablauf ihrer Eltern ist dagegen meistens durchgeplant. Kinder leben im Hier und Jetzt. Erst zwischen dem siebten und zehnten Lebensjahr entwickeln sie allmählich eine Vorstellung von der Zeit. Für kleinere Kinder ist daher der Jahreswechsel nichts Besonderes, abgesehen davon, dass sie vielleicht etwas länger aufbleiben dürfen.
Erwachsene fragen: Wo ist nur die Zeit geblieben? Ist schon wieder ein Jahr vorbei? Manche klagen darüber, dass sie nicht mehr mit der Zeit mitkommen, sie möchten sie gerne anhalten oder zumindest langsamer laufen lassen. Aber es ist nicht vorstellbar, dass alles immer gleich bleibt. Das Leben verträgt keinen Stillstand. Stillstand ist eine Eigenschaft des Todes. Zeitgefühl ist etwas sehr Subjektives. Während einer unterhaltsamen Runde vergehen die Stunden wie im Flug. Dagegen kann sich eine halbe Stunde beim Warten auf den Autobus in die Länge ziehen. Wieviel Zeit haben Menschen also? Letztlich hängt es nicht davon ab, was wir erleben und machen, sondern davon, wie wir unsere Erlebnisse und Erfahrungen beurteilen. Ist das Glas, das bis zur Hälfte gefüllt ist, halb leer oder halb voll? Darauf muss jeder seine persönliche Antwort finden.
Jörg Zink betet: „Herr meiner Stunden und meiner Jahre, du hast mir viel Zeit gegeben. Sie liegt hinter mir und sie liegt vor mir. Sie war mein und wird mein und ich habe sie von dir. Ich danke dir für jeden Schlag der Uhr und für jeden Morgen, den ich sehe. Ich bitte dich nicht, mir mehr Zeit zu geben. Ich bitte dich aber um viel Gelassenheit, jede Stunde zu füllen. Jede Stunde ist wie ein Streifen Land. Ich möchte ihn aufreißen mit dem Pflug. Ich möchte Liebe hineinwerfen, Gedanken und Gespräche, damit Frucht wächst. Segne du meinen Tag.“
Mag. Ingrid Tschank ist Pfarrerin in Gols. Kontakt: *protected email*
Jeden Sonntag sind Pfarrerin Maria Katharina Moser, Vikarin Julia Schnizlein und Pfarrerin Ingrid Tschank in der „Krone bunt“ – Kolumne „Im Gespräch“ zu lesen. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von krone.at