Woher wir kommen
Julia Schnizlein über Dankbarkeit am Israelsonntag
Warum sind wir, wie wir sind? Was hat uns zu diesen Menschen gemacht – mit unserem Aussehen und all den Eigenschaften, Begabungen und Spleens? Was ist angeboren und vererbt? Und was haben wir uns selbst angeeignet? Diese Fragen stellen sich viele Menschen, denn es ist ein Grundbedürfnis, zu wissen, woher man kommt.
Woher wir als Kirche, als Christinnen und Christen kommen, darum geht es am heutigen Sonntag, der im evangelischen Kirchenjahr den Namen „Israelsonntag“ trägt. An diesem Sonntag geht es um unsere Wurzeln, und die liegen im jüdischen Glauben, im Alten Testament. Jesus war Jude, auch wenn man unter den Nationalsozialisten die Frechheit besessen hatte, ihn zu einem „Arier“ erklären zu wollen. Jesu Jüngerinnen und Jünger waren Juden genau wie der Apostel Paulus und die ersten Christen. Vieles von dem, was Jesus gelehrt hat, ist nur aus dem Judentum heraus zu verstehen.
Juden und Christen verbinden gemeinsame Geschichten – von Abraham, Mose, David und Noah, von Eva, Sara, Rebekka und Mirjam. Uns verbinden gemeinsame Gebete und Gebote, allen voran das Doppelgebot der Liebe: „Du sollst Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Es ist ein reiches Erbe, das wir von unseren jüdischen Glaubensgeschwistern überreicht bekommen haben, auch wenn die christliche Kirche dieses Erbe nicht immer nur mit Stolz und Dankbarkeit bedacht hat.
Es ist eine dunkle, beschämende Geschichte, in der die Kirche versuchte, sich vom Judentum zu distanzieren und ihr jüdisches Erbe zu verstecken. Sie zieht ihre verhängnisvolle Spur von den Judenpogromen des Mittelalters zu den Gaskammern der Nationalsozialisten. Leider hetzte auch der Reformator Martin Luther gegen alles Jüdische. Mit seinen antisemitischen Äußerungen und Schriften leistete er Vorschub für die spätere systematische Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden in der Shoah. Von Luthers antijüdischen Aussagen distanziert sich die evangelische Kirche heute ganz klar und erinnert am heutigen Israelsonntag auch an die eigene Schuldgeschichte.
Der Israelsonntag ist ein bisschen wie Muttertag. Es ist ein Tag, um Danke zu sagen und sich klarzumachen, was und wie viel man der vorangegangenen Generation verdankt. Im Fall der Kirche verdankt sie dem Judentum ihre Existenz.