Selbstbilder und Geschichtsbilder zwischen „Opfer“ und „Elite“
Tagung: Memorale Verantwortung, kritische Reflexion und Ethik des Erinnerns
Wien (epdÖ) – Für eine „memorale Verantwortung“ der Evangelischen Kirche plädiert die Geschichtsforscherin Claudia Lepp. In ihrem Vortrag bei der Tagung zu evangelischen Erinnerungskulturen befasste sich Lepp mit dem Verhältnis der evangelischen Zeitgeschichtsforschung zur evangelischen Erinnerungskultur. „Wenn die Evangelische Kirche dieses Arbeitsfeld für wichtig hält, muss sie auch zeithistorische Forschung im Hinblick auf die eigene Denkkultur fördern“, sagte die an der Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte in München tätige Historikerin. Dabei sei bei Theolog*innen mehr kritische Selbstreflexion gefordert, die schließlich aktiv in die Erinnerungskultur eingebracht werden müsse.
Dantine: Erinnern als „Aufruf zur Verantwortung“
Mit der Fragestellung „Selbstvergewisserung oder kritische Reflexion?“ widmete sich Olivier Dantine, Superintendent der Diözese Salzburg/Tirol, der Funktion des Erinnerns in der Evangelischen Kirche. In seinem Vortrag hob er das Spannungsverhältnis zwischen einer kritischen Erinnerungskultur vor allem im Hinblick auf die problematische Rolle Evangelischer in der Zeit der Nationalsozialismus einerseits und der Opferrolle in Bezug auf das Erinnern an die Vertreibungen evangelischer Christ*innen andererseits hervor. Die Erinnerungskultur in Salzburg und Tirol sei Dantine zufolge stark verbunden mit den Protestantenvertreibungen des 17., 18. und 19. Jahrhunderts. „Aus dem Erinnern wird zur Verantwortung aufgerufen“, betonte der Superintendent. Demnach könne die Funktion der Erinnerung für die Evangelische Kirche – als Alternative zur „Perpetuierung der Opferrolle“ – auch als ein Auftrag an Vertreter*innen der Evangelischen Kirche gesehen werden, sich gegen Diskriminierung anderer Religionen und für einen Dialog der Religionen auf Augenhöhe einzusetzen, wie es etwa im Zuge der Diskussion um die Moschee mit Minarett in Telfs in Tirol geschehen sei.
Mit einer „theologischen Ethik evangelischen Erinnerns“ setzte sich Thomas Scheiwiller vom Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der Universität Wien auseinander. Dabei sei das Gewissen der zentrale Begriff dieser Ethik. Demnach werde Scheiwiller zufolge innerhalb einer kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte bzw. einer normativen Geschichtsphilosophie die Sündhaftigkeit und die Rechtfertigung menschlichen Handelns hervorgehoben. Diese Ethik sei „negativ bestimmt“ und betone, „was man nicht darf“. Normativität sei nicht rein „moralisierend”, sondern mit Quellenkritik und der Reflexion individueller Standpunkte zu denken, so Scheiwiller.
Mit „Selbstbildern und Geschichtsbildern einer Minderheitskirche zwischen ‚Opfer‘ und ‚Elite‘“ befassten sich in ihrem Vortrag schließlich Astrid Schweighofer und Leonhard Jungwirth. „In der neuen Erinnerungskultur der reformierten Gemeinde spiegelt sich der Fortschrittsglaube wider“, sagte Jungwirth. Seit dem 19. Jahrhundert hätten sich zahlreiche Geistliche geschichtswissenschaftlich betätigt und seien dabei „zu maßgeblichen Gestaltern einer evangelischen Erinnerungskultur“ geworden. Schweighofer unterstrich allerdings, dass sich die Evangelische Kirche zur Zeit des katholischen Ständestaates bzw. vor dem Zweiten Weltkrieg auf ein „Opfernarrativ“ eingeschworen habe. Zwar durfte die Evangelische Kirche nach 1945 „das geforderte Maß an kritischer Selbstreflexion nicht außer Acht lassen“, doch Evangelische stellten sich auch als Opfer der Zeit des Nationalsozialismus dar. „Evangelische als Opfer war der Nährboden für ein neues, vergangenheitsbezogenes Narrativ“, meinte Jungwirth.
„Das Opfernarrativ wird bis heute teilweise affekthaft, teilweise bewusst aktualisiert“, sagte Schweighofer und erinnerte dabei an den 2019 von der Bundesregierung abgeschafften Karfreitag als Feiertag für Evangelische. „Es stellt sich die Frage, inwieweit Selbstbilder auch durch Fremdbilder einer nicht-evangelischen Mitwelt konstruiert und verfestigt werden“, so Schweighofer.
Rund 40 Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen universitären, kirchlichen und musealen Bereichen beschäftigten sich auf der bis Freitagnachmittag anberaumten Tagung mit Erinnerungskulturen innerhalb und außerhalb des österreichischen Protestantismus. Es ist die erste interdisziplinäre Tagung zu diesem Thema.