Wien: Tagung nimmt protestantische Erinnerungskulturen in den Blick
Kirchenhistoriker Leeb: „Keine staatlichen Initiativen, sich der protestantischen Tradition öffentlich zu erinnern“ – Bischof Chalupka: „Lücke im Gedenken zeitgemäß füllen“
Wien (epdÖ) – Außerhalb der evangelischen Kirche war und ist die Erinnerung an den Protestantismus in der katholischen Kirche und in den Bundesländern beheimatet, nicht jedoch beim österreichischen Staat auf Bundesebene. Dieser Befund des Kirchenhistorikers Rudolf Leeb stand am Beginn einer interdisziplinären Tagung über protestantische Erinnerungskulturen, die am Mittwochabend am Campus Wien eröffnet wurde. Rund 40 Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen universitären, kirchlichen und musealen Bereichen beschäftigen sich auf der bis Freitagnachmittag anberaumten Tagung mit Erinnerungskulturen innerhalb und außerhalb des österreichischen Protestantismus. Es ist die erste interdisziplinäre Tagung, die zu diesem Thema stattfindet.
Insgesamt gesehen gab es von Seiten des Staates keine entsprechenden Initiativen, „sich der eigenen – zeitweise eben durchaus bedeutenden – protestantischen Tradition öffentlich zu erinnern“, konstatierte Rudolf Leeb. Dieses weitgehende Fehlen von staatlichen Initiativen oder staatlichem Engagement in der Erinnerungskultur zeige sich in der „nahezu völligen Absenz der Emigrationen und Ausweisungen im öffentlichen österreichischen Geschichtsbewusstsein“. Spektakuläre Fälle wie die Vertreibung der Deferegger im 17. Jahrhundert, die Ausweisung der Salzburger oder der Zillertaler werden nur in den betroffenen Regionen, in den jeweiligen Ländern und von der katholischen Kirche erinnert. Deutlich anders sei hingegen etwa die Erinnerungskultur an die französischen Hugenotten, die über die Grenzen Frankreichs reicht und allgemein bekannt ist. Leeb: „160.000 – 200.000 Vertriebene und Emigranten waren es in Frankreich. Über die annähernd 200.000 österreichischen Emigranten und Ausgewiesenen weiß hierzulande außerhalb der Geschichtsforschung kaum jemand etwas.“
Bei der Identitätsstiftung des Staates war dem Protestantismus in der Geschichte die längste Zeit eine Negativrolle zugewiesen worden. „Das ist vielleicht auch ein Grund dafür, dass es kein vom Staat unterstütztes evangelisches Museum gibt“, meinte Leeb. Dennoch sei die offizielle Erinnerung des österreichischen Staates an den Protestantismus in seiner eigenen Geschichte keine völlige Fehlanzeige, denn bei der Einführung des Karfreitags als gesetzlichen Feiertag sei es 1955 auch um die staatliche Erinnerung an den Protestantismus gegangen. 2019 wurde der Karfreitag als gesetzlicher Feiertag für Evangelische und Altkatholiken jedoch abgeschafft.
„Schleifen des Denkmals Karfreitag“
Das Schleifen des „Denkmals Karfreitag“ habe eine Lücke hinterlassen, die es „zeitgemäß zu füllen gilt“, sagte der evangelisch-lutherische Bischof Michael Chalupka in seinen Eingangsworten. Chalupka sieht die Tagung als wichtigen Schritt auf dem Weg zu einer Erinnerungskultur der Evangelischen Kirchen in Österreich, „die denen entspricht, die diese Geschichte gelebt und geprägt haben, die uns besser verstehen lässt, wie wir den Weg weitergehen können angesichts vielfältiger Herausforderungen, und die dem Protestantismus in Österreich im Gedenken der Republik eine Platz gibt, der das Ganze bereichert“. Die Gegenreformation, ihre Märtyrer und Bekenner*innen hätten „einen festen Platz in der Geschichtskonstruktion unserer Kirchen“. Und doch fehle ein zentraler Ort der Erinnerung ebenso wie ein physisch begehbares Museum des Protestantismus in Österreich, „das vieles begreifbarer machen könnte“. Deutlich warnte Chalupka vor einer „Selbst-Viktimisierung“, keine Kirche dürfe sich in ihrer Erinnerung „auf die Toten berufen“. Vielmehr gehe es darum, aus der Geschichte und auch ihren Opfern zu lernen und Zukunft zu gestalten. „Wie also geht Erinnerungskultur, ohne sich auf die Opfer zu berufen? Wie geht das in der Geschichte der Evangelischen Kirche in Österreich, in deren Reihen es Opfer und Täter gegeben hat und die immer noch keinen zentralen Ort der Erinnerung im Rahmen der Republik gefunden hat?“, fragte der Bischof.
Uta Heil: „Keine Märtyrergeschichte in rosaroter Färbung“
„Evangelisches Erinnern erinnern ist notwendig, denn evangelisches Vergessen ist allgegenwärtig“, befand die Dekanin der Evangelisch-Theologischen Fakultät, Uta Heil. Dieses Erinnern müsse „kritisch und reflektorisch“ erfolgen, „keine Märtyrergeschichte in rosaroter Färbung“. „Erinnerungskulturen verankern die Vergangenheit in der Gegenwart. Und in der Reflexion über diese Kulturen wird der Vergangenheit ein Weg in die Zukunft geebnet“, erklärte Johannes Modeß, Teamleiter des ASH-Forums, und einer der Initiatoren der Tagung. Eine zukunftsfähige Gesellschaft müsse auch über die Zukunft der Vergangenheit nachdenken. Astrid Schweighofer, Präsidentin der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich und ebenfalls im Vorbereitungsteam der Tagung, kündigte an, dass die Beiträge der Tagung im nächsten Jahrbuch der Gesellschaft publiziert werden.
Veranstaltet wird die Tagung, die in der Alten Kapelle am Campus Wien bzw. am Freitagnachmittag in der Pauluskirche am Sebastianplatz stattfindet, vom „Memory Lab – evangelisches:erinnern“ des „Albert Schweitzer Haus – Forum der Zivilgesellschaft“ in Kooperation mit den Instituten für Kirchengeschichte, Christliche Archäologie und Kirchliche Kunst sowie für Systematische Theologie und Religionswissenschaft der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien sowie der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich.