Körtner: Neben der Nächstenliebe braucht es auch die Fernstenliebe
„Zynisch und inhuman, hilfsbedürftige Menschen gegeneinander ausspielen zu wollen“
Wien (epdÖ) – In einem Gastbeitrag für die Wochenendausgabe der „Wiener Zeitung“ (25./26. März) befasst sich der evangelische Theologe Ulrich Körtner nicht nur mit der Nächstenliebe, sondern auch mit der „Fernstenliebe“. Und er verwehrt sich dagegen, Hilfsgelder ins Ausland als „Geschenke“ zu titulieren. „Helfen in Zeit der Not ist eine humanitäre Pflicht und ein Gebot der Nächstenliebe“, schreibt Körtner. Es sei „ein Zeichen der Hoffnung in all den gegenwärtigen Krisen, dass auch jetzt viele Menschen bereit sind zu helfen“. Als Beispiel nennt er Spenden für die Opfer des Erdbebens in der östlichen Türkei und im Norden Syrien, das bis Ende Februar bereits mehr als 50.000 Tote gefordert hat.
Zynisch und inhuman sei es aber, „hilfsbedürftige Menschen gegeneinander ausspielen zu wollen, wie es Niederösterreichs frischgebackener Landeshauptmannstellvertreter Udo Landbauer von der FPÖ getan hat“, kritisiert der Theologe und Ethiker. Landbauer hatte die 3 Millionen Euro, die die Regierung aus dem Auslandskatastrophenfonds bereitgestellt hat, als „Millionengeschenk ans Ausland“ kritisiert und von einer „Unverfrorenheit“ gesprochen. Damals habe Landeshauptfrau Johanna Mikl-Leitner noch gemeint, ein solcher Sager richte sich selbst, erinnert Körtner. „Das hat sie aber nicht daran gehindert, eine Koalition mit der FPÖ einzugehen und einen 30 Millionen Euro schweren ‚Wiedergutmachungsfonds‘ für vermeintliche Opfer der staatlichen Corona-Politik anzukündigen.“ Aus diesem Topf sollen beispielsweise aufgehobene Corona-Strafen zurückgezahlt werden.
3 Millionen Euro an Bundesmitteln für die Erdbebenopfer gegen 30 Millionen Euro für einen fragwürdigen Wiedergutmachungsfonds: „Hier geraten die Maßstäbe völlig aus dem Lot“, konstatiert Körtner und betont, dass Hilfsmittel für den Wiederaufbau in der Türkei und in Nordsyrien nicht leichtfertig vergeben werden sollten. „Bei der Vergabe der Mittel ist darauf zu achten, dass die Gelder nicht in den Taschen von Bashar al-Assads Regime landen oder in den osttürkischen Kurdengebieten für die politischen Zwecke Erdogans missbraucht werden.“
Fernstenliebe notwendige Ausweitung der Nächstenliebe
Wer jedoch in einer humanitären Krise wie der Erdbebenkatstrophe gleich im ersten Moment die Parole „Österreich(er) zuerst“ ausgibt, „verstößt gegen jede Menschlichkeit und auch gegen das biblische Gebot der Nächstenliebe“, so der Theologe. Es handle sich bei der Katastrophenhilfe „nicht um Geschenke oder gar um Geldverschwendung, sondern um dringende Hilfe für Menschen, denen es am Nötigsten fehlt“.
„Es gibt nicht nur die Pflicht zur Nächstenliebe, sondern auch zur Fernstenliebe“, appelliert Körtner. „In der einen Welt, in der wir Menschen nur miteinander leben und überleben können, braucht es neben einer Ethik im Nahbereich auch eine Ethik im Fernhorizont. Und das nicht nur in räumlicher, sondern auch in zeitlicher Hinsicht, tragen wir doch auch Verantwortung für das Leben künftiger Generationen.“ Sich für den „fernen Nächsten“ einzusetzen sei keine Alternative zur Nächstenliebe, sondern deren notwendige Ausweitung. Wobei es sich im konkreten Fall bei den Erdbebenopfern nicht einmal um völlig fernstehende Menschen handle, sondern um solche, die unmittelbar in Europas Nachbarschaft leben. „Viele Menschen, die bei uns leben, haben Verwandte in den türkischen und syrischen Erdbebengebieten – oder dort Familienangehörige verloren“, schreibt Körtner.
Es wäre ein Akt der Humanität gewesen, Betroffenen, die Verwandte in Österreich haben, durch vereinfachte Visaverfahren zu ermöglichen, zeitweilig hier unterzukommen. Die österreichische Regierung habe dies abgelehnt und auf ihr Prinzip „Hilfe vor Ort“ verwiesen. Die brauche es in der Tat, und das auf längere Sicht. „Die Formel sollte aber grundsätzlich nicht als Vorwand dienen, andere Hilfsmöglichkeiten prinzipiell auszuschließen“, bekräftigt Körtner.