Wo Licht ist, ist auch Schatten
Enthüllungsbücher könnten auch etwas Heilsames an sich haben, meint Julia Schnizlein
Skandal oder banal? Zwei Veröffentlichungen haben in dem noch jungen Jahr für Gesprächsstoff gesorgt: „Nichts als die Wahrheit“, das neue Buch von Georg Gänswein, dem langjährigen päpstlichen Privatsekretär, und „Reserve“, die viel diskutierten Memoiren von Prinz Harry.
Beide Bücher wollen einen Blick hinter Kulissen geben – hinter die des Vatikans und die des britischen Königshauses. Beide wollen enthüllen und entzaubern und gleichzeitig andere Seiten beleuchten. Gänswein kritisiert Papst Franziskus, um gleichzeitig seinen langjährigen, väterlichen Herrn, den verstorbenen Benedikt XVI, in großem Glanz erscheinen zu lassen. Und Harry wiederum geht gegen das glanzvolle Image seiner royalen Familie vor und versucht, sich selbst in ein besseres Licht zu stellen.
Zurück bleibt die wenig überraschende aber vielleicht doch wohltuende Erkenntnis: Ob Royals oder Geistliche – wir sind alle nur Menschen und bei anderen geht’s auch nicht besser zu.
Trotzdem neigen wir Menschen gerne dazu, andere zu verherrlichen und zu verklären. Wir verehren Menschen, deren Auftreten oder Leistung uns beeindruckt, wie Lichtgestalten. Wir sehen ihren Glanz, projizieren unsere Sehnsüchte und Vorstellungen auf ihr Leben, ohne auf die Schattenseiten zu achten. Denn wo Licht ist, ist immer auch Schatten.
Aber wir glauben eben gern, dass das Gras auf der anderen Seite grüner ist. Und wir stellen damit unbewusst unser eigenes Licht unter den Scheffel.
Der Ausdruck „sein Licht unter den Scheffel stellen“ stammt übrigens aus der Bibel, aus Jesu Bergpredigt. Da heißt es: „Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind. So lasst euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen. (Matthäus 5:15,16) Was Jesus damit sagen will: Ihr braucht keine Lichtgestalten, werdet selbst zu Licht!
Bei aller Kritik an „Enthüllungsbüchern“, wie die von Gänswein oder Harry, haben sie doch auch etwas Heilsames. Sie entzaubern einzelne und haben damit das Potenzial, allen den Zauber zurückzugeben, den Jesus uns zugedacht hat, als er sagte: „Ihr seid das Licht der Welt.“