Tagung befasste sich mit „Selbst- und Geschichtsbildern in spezifisch geprägten Erinnerungskulturen“

 
von Evangelischer Pressedienst

Heyse-Schaefer: „Erstaunen über späte Gleichstellung von Pfarrerinnen“ – Hennefeld: „Das Vergangene aktualisieren“

Wien (epdÖ) – Dem Thema „Selbst- und Geschichtsbilder in spezifisch geprägten Erinnerungskulturen“ widmeten sich Expertinnen und Experten am Freitag, 21. April, in der Alten Kapelle am Campus Wien. Die fünf Kurzimpulse wurden im Rahmen der Fachtagung „evangelisches:erinnern“ präsentiert, die sich vom 19. bis 21. April mit protestantischer Erinnerungskultur befasst.

„Die Rolle der Frauen in der Kirche wurde lange Zeit als leise, aufopfernd und dienend dargestellt“, sagte Barbara Heyse-Schaefer in ihrem Impulsreferat mit dem Titel „Der lange Weg zur Gleichberechtigung. Die Erinnerung an evangelische Frauen und Frauenorganisationen im 20. Jahrhundert“. Die Pfarrerin aus Wien verortet Frauen in der evangelischen Kirche „zwischen Glorifizierung, Traumatisierung und Vergessen“. Pfarrfrauen seien 500 Jahre lang die evangelischen Frauen schlechthin gewesen, konstatierte Heyse-Schaefer, ein Bild, das durch Katharina von Bora, der Ehefrau von Martin Luther, geprägt wurde. Es dauerte bis 1965, dass die Generalsynode beschloss – allerdings noch unter Einschränkungen – Frauen zu ordinieren. Und überhaupt erst 1980 wurde die rechtliche Gleichstellung von Pfarrerinnen und Pfarrern in der Evangelischen Kirche in Österreich eingeführt. „Alle sind erstaunt, wie spät das erst kam“, so Heyse-Schaefer.

Der „Erinnerungskultur in reformierter Tradition aus heutiger Perspektive“ widmete sich Landessuperintendent der Reformierten Kirche, Thomas Hennefeld. Er wies darauf hin, dass sich Reformierte an Gott als universellen Befreier aus Unterdrückung erinnern. „Die biblische Erinnerung ist Auftrag, Gott auch heute als Befreier zu proklamieren“, sagte Hennefeld. Diese Freiheit gehe freilich einher mit Verantwortung für die Welt. Wichtig beim Thema „Erinnern“ sei in jedem Fall, sich mit Geschichte nicht nur aus historischem Interesse zu befassen, sondern „das Vergangene zu aktualisieren“. In reformierter Tradition gehe es auch darum, Erinnerungen an Persönlichkeiten wachzuhalten, betonte Hennefeld. Den vor kurzem verstorbenen ehemaligen reformierten Landessuperintendenten Peter Karner bezeichnete er als die „personifizierte Erinnerungskultur“. Und im Hinblick auf Jesu Worte „Tut dies zu meinem Gedächtnis“ verwies er auf die Abendmahlsfeier als eine besondere Form des Erinnerns.

Erinnern durch Lebens- oder Gemeindegeschichten und Museen

„Das Beste von allem ist, dass Gott mit uns ist.“ Unter diesem Titel, einem Zitat von John Wesley an dessen Sterbebett, berichtete Pastorin Esther Handschin über „Erinnern, Bezeugen und Gedenken in methodistischer Tradition“. Lebensgeschichten spielen unter Methodist*innen dabei seit jeher eine große Rolle, „davon zu erzählen, was Gott in meinem Leben bewirkt hat, war ein wichtiger Aspekt für Methodist*innen“, erläuterte Handschin. Dieses Erinnern fand Platz in „Liebesfesten“, die sich bis Mitte des 20. Jahrhunderts hielten. Die Tradition des Zeugnisgebens ist bis heute in Gottesdiensten erhalten geblieben. Auch auf eine andere Kultur des Erinnerns wies die Pastorin hin: auf Gedenktafeln in England. So können man an etlichen Gebäuden Tafeln mit der Inschrift „Hier predigte John Wesley“ sehen. In Österreich finde man Methodistisch-Historisches etwa in der Grazer Kirche, erbaut 1923, die „ein bisschen wie eine Englische ‚Chapel‘ aussieht“.

Über „Selbst- und Geschichtsbilder im pietistisch-evangelikalen Milieu der evangelischen Kirche“ referierte der Kirchenhistoriker Frank Hinkelmann. Eine seiner Wahrnehmungen sei, dass dieses „vielfach von Idealisierung der Vergangenheit geprägt ist, die in den Dienst der Glaubensstärkung gestellt wird“. Ebenso stellte er mehrere Dualismen fest, etwa zwischen der eigenen Gruppe und der postmodernen Gesellschaft, die oft mit negativen Begriffen belegt werde. Ein weiterer Dualismus sei die Unterscheidung zwischen „liberal“ und „rechtgläubig“.

Von einer fast vergessenen Gemeindegeschichte berichtete Andrea Ramharter-Hanel in ihrem Impulsvortrag „Kopftuch und Chat Noir – Evangelisch in Tulln an der Donau“. Ramharter-Hanel ist ehemalige Leiterin der Fachbereichsbibliothek für Alte Geschichte an der Universität Wien und aktives Gemeindeglied in der evangelischen Pfarrgemeinde Tulln. Bei der Tagung erinnerte sie an deutsche evangelische Aussiedler, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Arbeiter aus Krtschedin in Serbien nach Tulln kamen und eine Stütze des Gemeindelebens bildeten. Die Krtschediner verfügten über große handwerkliche Fähigkeiten und halfen beim Bau der evangelischen Kirche in Tulln mit. „So konnte die evangelische Gemeinde Tulln entstehen“, bringt Ramharter-Hanel die Bedeutung der Aussiedler auf den Punkt. Luxus gab es für die Frauen am Sonntag, erzählte sie. „Das damals beliebte Eau de Toilette ‚Chat Noir‘ durfte in der Handtasche nicht fehlen.“ Bei dieser Geschichte handle es sich um „ein historisches Phänomen, das nur noch in Erzählungen älterer Zeitzeugen präsent ist“.

Ergänzend zu den Impulsreferaten wurden auch Evangelische Museen und Gedächtnisprojekte präsentiert: das virtuelle „Evangelische Museum Österreich“, die relativ junge „Topothek der Evangelischen Kirche in Österreich“, das „Evangelische Museum OÖ Rutzenmoos“, das „Evangelische Diözesanmuseum Fresach“, das „Evangelische Diözesanmuseum Steiermark“ sowie der „Weg des Buches“.

Mit den Themen „Österreichische Öffentlichkeit, evangelische Erinnerungsarbeit und Geschichtspolitik“ sowie „Verschüttete Erinnerung, Verdrängung und Aufarbeitung: Werkstättenberichte“ ging die Tagung am Nachmittag des 21. April in der Pauluskirche am Sebastianplatz weiter. In seinem Vortrag „Holprige Umkehr. Die evangelische Kirche und das Judentum seit 1945“ meinte Pfarrer Roland Werneck, nach seiner Beobachtung „hat sich die Theologie und die Praxis in unserer Kirche im Verhältnis zum Judentum besonders in den letzten 25 Jahren stark verändert“. Die Synodenerklärung „Zeit zur Umkehr“ habe dazu einen entscheidenden Beitrag geleistet. „Auf der akademischen Ebene ist die christlich-jüdische Zusammenarbeit inzwischen selbstverständlich“, konstatierte Werneck. Da die Begegnung mit Zeitzeugen der NS-Zeit immer schwieriger werde, brauche die zeitgeschichtliche Vermittlung neue Medien und neue Methoden.

Veranstaltungsteam zieht positives Resümee

Das abschließende Resümee des Veranstaltungsteams fiel durchgehend positiv aus. Wichtige Fragestellungen einer (evangelischen) Erinnerungskulturgeschichtsforschung konnten im Rahmen der Tagung tatsächlich das erste Mal formuliert und zum Teil auch beantwortet werden, zeigte sich der Kirchenhistoriker Leonhard Jungwirth erfreut. „Wir nehmen viele Impulse für weitere Nachdenkprozesse mit.“ Die Wichtigkeit einer (selbst-) kritischen Auseinandersetzung mit evangelischer Erinnerungskultur und vor allem Geschichtspolitik habe sich bestätigt. Kirchenhistorikerin Astrid Schweighofer unterstrich den wertvollen Vernetzungseffekt im Rahmen der Tagung. „Ich denke auch, dass es uns mit der Tagung, bei der wir im Grunde den Status quo erhoben haben, gelungen ist, zu einer weiteren und vertieften kritischen Auseinandersetzung mit bisherigen Narrativen anzuregen.“

Die Historikerin Martina Fuchs hob die „gelebte Interdisziplinarität der Tagung“ hervor. Dass sie viele spannende Einblicke in die verschiedensten kirchenhistorischen Themenfelder geboten habe, betonte der Systematische Theologe Thomas Scheiwiller. „Eine weiterführende Diskussion über den normativen Charakter von Kirchengeschichtsschreibung ist aus meiner Perspektive sowohl für die Theologie als auch für die Kirche äußerst fruchtbar.“ Dank der geographischen, methodischen und personellen Vielfalt der Tagungsbeiträge „war wohl wirklich für alle Teilnehmenden viel Lehrreiches dabei“, lautet das Fazit von Pfarrer Johannes Modeß, Teamleiter im ASH-Forum. „Besonders gefreut hat mich, dass sich ernsthafte und weiterführende Gespräche zu konkreten Fragen, die Pfarrgemeinden und Gesamtkirche umtreiben, ergeben haben.“

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