Moser: Müssen in Europa an unserer Humanisierung arbeiten
Podiumsdiskussion mit Theologin Polak und EU-Parlamentarier Karas
Wien (epdÖ) – „Die Seele Europas sind die Menschen. Wir haben im vergangenen Jahrhundert eine unglaubliche Bestialisierung der Menschen in Europa erlebt und im Anschluss daran die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und die Europäische Menschenrechtscharta entwickelt. Aber diese Humanisierung ist nichts, was uns in Europa automatisch eignet, wir müssen immer an ihr arbeiten.“ Das sagte Diakonie-Direktorin Maria Katharina Moser am Donnerstag, 4. Oktober, anlässlich einer Podiumsdiskussion über die „Seele Europas“ in Wien. Mit Moser diskutierten auf Einladung der ökumenischen Plattform „Christlich geht anders“ die römisch-katholische Theologin Regina Polak und Othmar Karas, ÖVP-Abgeordneter zum Europäischen Parlament.
In der Diskussion sprach sich Moser für eine Aufwertung der sozialen Dimension in Europa aus, die nicht nur den unmittelbar Betroffenen zugute käme, sondern sich auch als ökonomisch rentabel erweise: „In vielen Bereichen ist in der Krisenzeit in Europa die Beschäftigung gesunken, im Bereich sozialer Dienstleistungen aber um 16 Prozent gestiegen. Die sozialen Leistungen, die wir als Diakonie oder Caritas erbringen, sind also auch ein Konjunkturmotor in Europa.“ Die Diakonie-Direktorin kritisierte zudem „Glaubenssätze unserer Zeit: ‚Im Leben wird dir nichts geschenkt‘, ‚Jeder ist seines Glückes Schmied‘. Das widerspricht der christlichen Logik.“ Zuerst, so Moser, müsse die Wertschätzung und Anerkennung kommen; das setze wiederum Energien frei, dank derer wir Leistung erbringen könnten. Das zu betonen sei der Beitrag der Religionen im politischen und zivilgesellschaftlichen Diskurs. Diakonie und Kirchen sprächen als „eine Stimme der Vernunft, während die Politik immer mehr in den Irrationalismus abdriftet“.
Theologin Polak: Belange der Jungen werden kaum wahrgenommen
Die Wiener Theologin Regina Polak betonte wie Moser die Notwendigkeit eines Begriffs der Werthaftigkeit des Menschen, der vor dessen ökonomischer Leistungsbemessung anzusiedeln sei: „Aus Wertestudien wissen wir, dass ein Mensch meist nur dann als wertvoll anerkannt wird, wenn er einen Beitrag für die Gesellschaft leistet. Diese Einstellung ist vor allem bei gebildeten Menschen und der Mittelschicht verbreitet. Aber allein mit moralischen Appellen, die Würde des Menschen anzuerkennen, kommen wir hier nicht weiter. Wir müssen auf allen Ebenen schauen, was macht es so schwierig, die Würde des Menschen anzuerkennen?“ Europa, so Polak, sei in erster Linie eine „Erinnerungsgemeinschaft“, die sie jedoch durch eine gegenwärtige „Amnesie“ bedroht sehe. Die mit Stolz hervorgehobenen europäischen Werte seien „auf den Trümmern zweier Weltkriege und Millionen Toter“ entstanden – eine Erfahrung, aus der die Gründerväter gelernt hätten, aus der weiter zu lernen aber noch bevorstehe, sagte die Wissenschaftlerin, die unter anderem zum Verhältnis von Flucht, Migration und Religion forscht. Eine Quelle der gegenwärtigen Probleme liege im demographischen Wandel, der zu einer Überalterung des Kontinents führe: „Die Belange der Jungen werden kaum wahrgenommen.“ Religionen, insbesondere die monotheistischen, könnten helfen, den europäischen Zukunftspessimismus zu überwinden: „Was zumindest die christliche und jüdische Tradition auf jeden Fall einbringen können ist, zu sagen: Da wartet jemand auf uns, uns ist Zukunft verheißen.“
EU-Abgeordneter Karas: Idee Europas wurzelt im Begriff der Menschenwürde
Der EU-Parlamentarier Othmar Karas sprach sich für eine Verstärkung des interreligiösen und intrareligiösen Dialogs in Europa aus. Als Politiker würde er es sich wünschen, von den anerkannten Religionsgemeinschaften innerhalb der Europäischen Union öfter gemeinsame Anliegen zu hören zu bekommen. „Wir müssen Staat und Kirche trennen“, so Karas, „aber der Glaube spielt in der Einstellung der Menschen zu anderen eine große Rolle. Das ist auch Teil der politischen Verantwortung, daher erhoffe ich mir eine Intensivierung des Gedankenaustausches zwischen Politik und Religionen, und das nicht nur an Feiertagen.“ Karas zitierte zur Frage nach der Seele Europas Papst Franziskus, der in einer Rede vor dem Europäischen Parlament gemeint habe, die Seele Europas gehe verloren, wo die Idee Europas verlorengehe. Dieser Idee nach, sagte Karas, sei Europa eine Wertgemeinschaft, in der der die täglichen politischen Handlungen wurzeln müssten. Hier gebe es aktuell viele Rückschritte und Defizite, so zum Beispiel das Fehlen eines ausgeprägten Sanktionsmechanismus zur Bestrafung von Menschenrechtsverletzungen oder eine ausstehende gemeinsame Definition von Armut. Dennoch wolle er sich von den Umständen nicht frustrieren lassen: „Wenn wir uns die Seele rauben lassen, die Suche nach der Würde im anderen, dann hat auch die Idee Europa keine Chance. Diese Idee wurzelt im christlich-jüdischen Glauben und im Begriff der Menschenwürde.“
Die Initiative „Christlich geht anders“ versteht sich laut Eigendefinition als Zusammenschluss von VertreterInnen katholischer, evangelischer und orthodoxer Organisationen mit dem Ziel, „zur gesellschaftlichen Lage Stellung zu beziehen“. Schwerpunktthemen seien dabei „Arbeitslosigkeit, prekäre Beschäftigung, Armut und die Not geflüchteter Menschen“. Die Logik des Marktkapitalismus widerspreche den Grundbotschaften des Christentums. Die Initiative orientiert sich dabei am Sozialwort des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRKÖ) aus dem Jahr 2003 und dem päpstlichen Apostolischen Schreiben Evangelii Gaudium (2013). Prominente UnterstützerInnen der Initiative sind Judith Pühringer, Arbeitsmarktexpertin der Armutskonferenz, Paul M. Zulehner, Theologieprofessor und Obmann des Pastoralen Forums, Erhard Busek, früherer Vizekanzler und nunmehr Vorstandsvorsitzender des Instituts für den Donauraum und Mitteleuropa (Wien), und die Evangelische Frauenarbeit.