Ist die Reformation nicht längst Geschichte, Herr Engemann?

Warum wir heute nach 501 Jahren immer noch am 31. Oktober die Reformation feiern

 
von Martina Schomaker
Martin Luther blickt über Wien - fotografiert vom Turm der Lutherkirche in Währing. Foto: Thomas Mayer-Egerer
Martin Luther blickt über Wien - fotografiert vom Turm der Lutherkirche in Währing. Foto: Thomas Mayer-Egerer

Glauben als Quelle eines guten Lebensgefühls

Warum feiern wir heute nach 501 Jahren immer noch am 31. Oktober die Reformation? Und was bedeuten Freiheit und Verantwortung für den evangelischen Glauben? Ein Interview mit Univ.-Prof. Dr. Wilfried Engemann, er ist Praktischer Theologe an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Universität Wien.

Ist die Reformation nicht längst Geschichte, Herr Engemann?
Wilfried Engemann: Natürlich – aber ihre Wirkung ist nicht passé.

Welche Wirkung meinen Sie?
Wilfried Engemann: Die Neuinterpretation des Glaubens als eine Lebensart, die auf Freiheit und Liebe basiert. Mit der Erfahrung von Freiheit kommt das Gefühl von Weite ins Leben, mit der Liebe die Tiefe. Ohne Freiheit erfahren wir unser Leben als eng und bedrückend, ohne Liebe ist es flach und banal. Glaubende sollen mit einem guten Lebensgefühl leben – was einer positiven Gesamtbewertung des eigenen Lebens gleichkommt, und nichts mit oberflächlichem Wohlgefühl oder Gemütlichkeit zu tun hat.

Wie zeigt sich dies in der Kirche?
Wilfried Engemann: Der Gottesdienst zum Beispiel bedeutet erstmals *Gottes Dienst für Menschen*. Die Messe ist keine Dienstleistung für eine milde zu stimmende Gottheit mehr. Die Struktur der Messe wurde abgeändert, so dass sie unmissverständlich die Versöhnung des Menschen mit Gott, mit sich selbst (Schluss mit einem ewig schlechten Gewissen!) und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten eines erfüllten Lebens widerspiegelt. Durch die Reformation gilt die Frage, *was ein Mensch vom Glauben hat* und nicht mehr, was er für ihn tun muss.

Was hat ein Mensch vom Glauben?
Wilfried Engemann: Ein Priester oder eine Pfarrer*in hat gute Arbeit geleistet, wenn die Menschen einen Begriff davon haben, was das Ganze *für sie selbst* bedeutet: wenn sie damit anfangen, ihren Glauben für ihre Freiheit in Anspruch zu nehmen. Dabei geht es um mehr als um die Freiheit von Sünde, Tod und Teufel. Es geht auch um Freiheit im Führen eines eigenen, selbstbestimmten Lebens. Ein Leben, in dem um der Freiheit willen „protestiert“ werden darf und muss, wenn das eigene Gewissen korrumpiert wird, wenn ein Mensch Ja sagen soll und Nein denkt. Dies führt zu innerer Zerrissenheit, macht ängstlich, führt zu einem dumpfen Lebensgefühl. Glauben soll helfen, ein „stimmiges“ Leben zu führen, Verantwortung für sein „stimmiges“ Leben zu übernehmen und im Einklang mit seinen Einsichten und Gefühlen zu handeln.

Glaube stärkt den Menschen?
Wilfried Engemann: Genau. Ich glaube, ohne diese protestantische Neuinterpretation des Glaubens als Ressource eines leidenschaftlichen Lebens hätte es zum Beispiel die ganz besondere Geschichte der Geheimprotestanten in Österreich wohl nicht gegeben, die selbst unter Androhung von Gewalt und unter der Erfahrung von Verfolgung in Vertreibung nicht bereit waren, von einem solchen Glauben abzurücken.

Vielen Dank für das Interview!

 

Das Interview ist erschienen im Magazin "Evangelisches Wien", Ausgabe04/2016 - www.evang-wien.at/magazin

 

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