Im Gespräch: „An den Abgründen der Geschichte“

 
von Evangelischer Pressedienst
"Der Weg zu den Menschenrechten führte durch die Abgründe der Geschichte. Vorbei an den Stätten des Nazi-Terrors." Foto: wikimedia/ursularegina/CC-BY-SA-3.0-AT
"Der Weg zu den Menschenrechten führte durch die Abgründe der Geschichte. Vorbei an den Stätten des Nazi-Terrors." Foto: wikimedia/ursularegina/CC-BY-SA-3.0-AT

Maria Katharina Moser über die Reichspogromnacht

„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“ So beginnt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, die vor 70 Jahren von der UNO verabschiedet wurde. Der Weg zu den Menschenrechten führte durch die Abgründe der Geschichte. Vorbei an den Stätten des Nazi-Terrors. Die Überzeugung, dass Menschen Würde und Rechte haben, die ihnen niemand nehmen darf, kommt aus der Erfahrung, dass genau das passiert ist.

Jeden Sonntag führt mich mein Weg in die Kirche vorbei an einer solchen Stätte des Nazi-Terrors. In der Braunhubergasse 7 in Wien-Simmering stand einmal eine Synagoge. Der 1898/99 vom „Israelitischen Tempelverein Simmering“ errichtete Gebets- und Versammlungsraum bot 382 Sitzplätze für die mehr als 500 Juden und Jüdinnen, die Mitte der 1930er Jahre im 11. Wiener Gemeindebezirk lebten. Vor 80 Jahren, in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, wurde die Simmeringer Synagoge zerstört.

42 jüdische Bethäuser und Synagogen wurden in jener Nacht in Wien niedergebrannt – im gesamten Deutschen Reich waren es ungefähr 1.400. Die weitere Schreckensbilanz der Reichspogromnacht in Wien: 27 Tote, 88 Schwerverletzte. 6.500 Juden und Jüdinnen verhaftet, 3.700 Festgenommene direkt nach Dachau deportiert. 2.000 Wohnungen geraubt, 4.000 Geschäfte geplündert. Brandruinen, wo einst Geschäfte und Synagogen waren. Die Scherben gaben der Nacht ihren Namen: Reichskristallnacht. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels hat diese Bezeichnung geprägt. Er war es auch, der davon sprach, dass die Pogrome ein „spontaner Ausbruch des Volkszorns“ waren. Tatsächlich hatte die Zentrale des Sicherheitsdienstes in Berlin am 9. November Blitztelegramme mit Anweisungen für Maßnahmen gegen die Juden an alle Gestapo-Leitstellen geschickt. Auch nach Wien.

Als am 10. November der Morgen graute und die Sonne über den Brandruinen aufging, bedeutete das nicht das Ende des Schreckens. Sein Anfang wurde sichtbar. Mit den Novemberpogromen 1938 wandelte sich die Diskriminierung, der deutsche Jüdinnen und Juden seit 1933 ausgesetzt waren, in ihre systematische Verfolgung und Vernichtung.

In Simmering, an der Ecke Braunhubergasse/Hugogasse, erinnert heute ein kleines Mahnmal an jene Wende-Nacht. Darauf ist zu lesen: „Zuerst zerstörten sie die Gebäude, dann töteten sie die Menschen. Niemals vergessen.“ Vorgestern, am 9. November, versammelten sich evangelische, römisch-katholische, altkatholische und muslimische Gläubige an dieser Stätte des Terrors und gedachten jener Menschen, für die hier einst eine Stätte des Glaubens war.

Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Über die Grenzen von Herkunft und Religion hinweg.

Dr. Maria Katharina Moser ist Direktorin der Diakonie Österreich. Kontakt: *protected email*

Jeden Sonntag sind Pfarrerin Maria Katharina Moser, Vikarin Julia Schnizlein und Pfarrerin Ingrid Tschank in der „Krone bunt“ – Kolumne „Im Gespräch“ zu lesen. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von krone.at

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