Glauben ohne Kirche?
Maria Katharina Moser über das gemeinsame Lernen von Vertrauen
„Ich glaube an Gott, dafür brauche ich keine Kirche“, sagt Clemens. Er ist nicht der Einzige, mit dem ich über diese Sichtweise ins Gespräch komme. Ja, die Gottesbeziehung ist genau das: eine Beziehung zwischen Gott und Clemens. Das ändert sich nicht, wenn Clemens aus der Kirche austritt. Und in der Welt von heute bestimmen Menschen selbst, was sie glauben und was nicht. Gott sei Dank. Braucht es die Kirche also nicht?
Interessant finde ich den Befund des deutschen Religionssoziologen Detlef Pollack. Es sei tatsächlich nicht so, dass Menschen zuerst ihren Glauben verlieren und dann aus der Kirche austreten. Es sei anders herum: „Geht die Zahl der Gottesdienstbesucher runter, folgt mit einer gewissen Verzögerung auch der Glaube an Gott“, beobachtet Pollack. Wenn sich Menschen von der Kirche verabschieden, verdunstet also mit der Zeit auch der Glaube. Dass die meisten ohne Kirche nicht religiös sind, liegt laut Pollack daran, dass ihnen die Routine abhanden kommt und dass Glaube eben nichts ist, was man im stillen Kämmerlein praktiziert.
Mir scheint diese These plausibel. Ich denke, die Gründe dafür liegen im Glauben selbst: Glaube ist nicht in erster Linie ein „Für-Wahr-Halten“ von Glaubenssätzen, sondern glauben heißt vertrauen. Und vertrauen müssen wir lernen, üben, leben – von und mit anderen. Glauben lebt in und aus der Gemeinschaft.
Glaube und Zweifel gehören zusammen. Wenn ich durch eine Phase des Zweifels gehe, können mich andere mit ihrem Glauben halten. Wenn ich eine Sinnkrise habe, können mir andere neue Perspektiven eröffnen. Glaube trägt durch die Höhen und Tiefen des Lebens. Im Sonntagsgottesdienst sitzen Angehörige von Verstorbenen neben Familien von Täuflingen, bitten wir Gott für Menschen, die Leid durchleben, und danken Gott für das Gute, das Menschen erfahren. Das ganze Leben hat Platz. Und ich muss die Hoffnung, dass das Leben stärker ist als die Mächte des Todes, nicht aus mir selber schöpfen. Geschichten von Durchhalten und Gelingen, von Getragensein und Heil schenken Hoffnung. Heutige Geschichten. Und biblische Geschichten. Die Bibel ist ein Hoffnungsschrank, in dem Erfahrungen von Gottvertrauen, Befreiung und Rettung gesammelt sind. Und Gebete, die Psalmen, aus denen wir uns Worte borgen können, wenn uns das Wort im Halse stecken bleibt.
Kirche hilft, Leben zu bewältigen. In der Gemeinde werden Freude und Leid, Hoffnung und Angst geteilt, nehmen Menschen Anteil an Ausgrenzung und Armut, Krankheit und Not. Kirche hilft erfahren: Ich bin nicht allein. In dieser Gemeinschaft kann Hoffnung wachsen, Gottvertrauen blühen.