Glaube in der Großstadt

Kirche-Sein in einer Millionen-Stadt? Ein Interview mit Inken Richter-Rethwisch

 
von Martina Schomaker
Glaube in der Großstadt? Religiöse Sprache, auch kritische, lässt sich nicht nur in Kirchen finden. Dieses Graffiti ist im 10. Bezirk in der Quellenstraße zu lesen.
Glaube in der Großstadt? Religiöse Sprache, auch kritische, lässt sich nicht nur in Kirchen finden. Dieses Graffiti ist im 10. Bezirk in der Quellenstraße zu lesen.

Kirche-Sein in einer Millionen-Stadt? Über Herausforderungen und Chancen lesen Sie ein Interview mit Inken Richter-Rethwisch, sie ist Oberkirchenrätin der Evangelischen Kirchen in Deutschland (EKD) und u.a. Referentin für das Thema „Citykirchenarbeit“.

 

Evangelisches Wien: Wie unterscheidet sich „Glaube in der Großstadt“ vom „Glauben im ländlichen Raum“?
Inken Richter-Rethwisch: Die Fragestellung „Glaube in der Stadt“ ist eine etwas andere als die des Kirche-Seins in der Stadt bzw. die Gemeindeform „Kirche in der Stadt“ an sich. Aber ein Versuch: Glaube unter den Vorzeichen eines großstädtischen Lebens bedeutet eine vielfältige Erweiterung spiritueller, volkskirchlicher geprägter und un-geprägter Frömmigkeit, Sehnsucht nach Transzendenz und nach punktueller Beheimatung.

Evangelisches Wien: Wo liegt die Herausforderung am Kirche-Sein in der Großstadt?
Inken Richter-Rethwisch: Die besondere Herausforderung ist es, sich auf die vielfältigen Lebensrhythmen der Menschen, auf andere Verweildauern, andere Gelegenheiten und Anlässe einzulassen und mehr und mehr die sogenannten Gelegenheitsgäste als eigene temporäre Gemeinde wertzuschätzen. Verbindliche Formen haben einen anderen Charakter bekommen - Gemeinde auf Zeit ist das Stichwort. Kirche in der Stadt ist Kirche auf dem Markt, mittendrin, Bürgerkirche, nimmt Stadt wahr, ist ein Teil von ihr, stellt so etwas wie ihre Seele dar, ihr Gewissen, ihre Gedächtniskultur. Kirche in der Stadt ist der protestantische Beitrag in der Stadtöffentlichkeit.

Evangelisches Wien: Wie kann Kirche im vielfältigen Großstadt-Angebot bestehen?
Inken Richter-Rethwisch: Ich glaube, die eigentliche Herausforderung ist nicht die Quantität der Angebote, sondern mit einer besonderen Qualität des Angebots aufzufallen. Die Menschen, die wie Flaneure durch die Stadt ziehen, werden schnell spüren, wo Angebote mit einer besonders kreativen Idee, mit Leidenschaft, Sorgfalt und innerer spiritueller Kraft gefüllt sind und suchen diese auf. Das können Gottesdienste mit besonderer Ausstrahlung oder Themen sein, Seelsorge, Konzerte oder Ausstellungen. Alle brauchen diesen ersehnten Moment, dass Menschen berührt oder erreicht werden. Dann ist aus meiner Sicht ein Angebot gelungen.

Evangelisches Wien: Womit kann Kirche in der Großstadt punkten?
Inken Richter-Rethwisch: Es sind nach wie vor unsere wunderschönen Kirchenräume, die wir öffnen und mit ansprechenden Angeboten füllen können. Sie sind ein großartiges Pfund, ein großer Schatz. Auch von originellen Umgestaltungen und Installationen in Kirchen werden Menschen spirituell und geistlich angesprochen. In der Großstadt gibt es so viele Möglichkeiten sich zu zerstreuen, zu inspirieren, zu informieren und zu diskutieren- Kirchenräume bilden dazu einen wunderbar kontemplativen Gegenpol, um zu sich zu kommen, sich zu zentrieren, neue Kraft zu tanken. Ein Gegenpol zu Geschäftigkeit und Lärm, zu Banalität und Kurzlebigkeit.

Evangelisches Wien: Was braucht eine Großstadt: Profil-Gemeinden mit besonderen Schwerpunkten oder Grätzel-Gemeinden?
Inken Richter-Rethwisch: Beides - immer beides! In seiner Ergänzung sind Profilgemeinden und Grätzelkirchen perfekt, weil die Kontaktflächen gemeinsam viel mehr Menschen anzusprechen vermögen.

Evangelisches Wien: Kann Kirche auch ein Ort für Menschen ohne Bekenntnis sein?
Inken Richter-Rethwisch: Ja, unbedingt. Ich erlebe in meiner Arbeit sehr viele Stadtpfarrer und -pfarrerinnen, die zunächst nicht nach der evangelischen Kirchenmitgliedschaft fragen, sondern erst einmal offen und neugierig sind auf alle, interessiert am politischen und gesellschaftlichen Diskurs mit Menschen aller möglichen unterschiedlichen Gesinnungen, Meinungen und Haltungen. Sofern diese gerne ins Gespräch kommen möchten mit evangelischer Kirche.

Evangelisches Wien: Wie wird sich das Ankommen von geflüchteten Christen bzw. von geflüchteten Menschen, die zum Christentum konvertieren Ihrer Meinung nach auswirken?
Inken Richter-Rethwisch: Durch all diese Entwicklungen werden Kirchen weiterhin Orte sein, die viel Sensibilität, Toleranz und Wachsamkeit für die Unterschiedlichkeit und Vielfalt von Menschen, Haltungen und Frömmigkeitsstilen aufbringen müssen. Die Kirchen werden in dieser Sensibilität aber interessante Wege beschreiten, weil sie sich für neue Talente, Begabungen und Stile öffnen und damit auch neuen Gemeinschaftsformen Raum geben. Ob das eine Mehrsprachigkeit im Gottesdienst ist, andere Lieder und Rituale oder was auch immer. Zugleich steckt darin eine unglaubliche große Chance unsere geliebten Traditionen auch anderen zu vermitteln und zu erklären; eben zu zeigen, was man am evangelischen Glauben liebt und als kostbar erlebt. Dadurch wird auch unsere evangelische Kirche weiter ihr Profil schärfen und stärken. Insofern sehe ich dieser Entwicklung sehr positiv entgegen.  

 

Weitere Informationen: Das Thema "Glaube in der Großstadt" wird am 30. September auf dem Reformationsfest am Wiener Rathausplatz (www.fest500.at) im Info-Zelt der Evangelischen Diözese A.B. Wien behandelt.

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